Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
daran zu sterben«, murmelte David. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft, um das Gehörte mit dem Wissen über Lord Belial und seinen Zirkel in Deckung zu bringen.
    »Oder das«, pflichtete ihm Tolkien bei. »An einigen Stellen wurde dieser dunkle Schattenfürst auch als Herr des Ringzirkels bezeichnet. Das hat mich auf die Idee zu meinem Epos gebracht.«
    »Darüber musst du mir unbedingt mehr erzählen!«
    Das tat Tolkien. Er freute sich über das Interesse an seinen Studien und plauderte bei einem braunen Bier munter los.
    David hatte fast immer einen Bleistift und ein Stück Papier dabei, um plötzliche Eingebungen schriftlich festzuhalten. Jetzt notierte er Namen von Büchern und Manuskripten, Liedern und Heldenepen, Sagengestalten und allem Möglichen, das ihm der Gelehrte erzählte.
    Einige Forscher, merkte Tolkien gegen Ende seines nun doch für David sehr aufschlussreichen Diskurses an, hielten es für möglich, dass der historische Artus ein britannischer Heerführer gewesen sein könnte, der im Jahre 537 im Kampf gegen die Angelsachsen gefallen sei. Das sei ziemlich genau dieselbe Zeit, zu der auch der echte Beowulf – Tolkien deutete mit dem Kopf auf Davids Buch – gelebt haben solle. In beiden Legenden tauchten auch Drachen auf Es gebe eine ganze Reihe von Belegen, nicht zuletzt die biblische Offenbarung des Johannes, die Drachen als Symbole für teuflische Wesen oder Personen mit niederträchtigem Charakter verwendeten. So gesehen lasse sich also durchaus ein Zusammenhang zwischen den mächtigen Unwesen der Heldenepen und dem Herrn des Ringzirkels, wie er in jüngeren Quellen genannt werde, konstruieren.
    »Wohlgemerkt«, schloss Tolkien seinen Bericht, »hier befinden wir uns auf dem Boden reiner Spekulationen. Für ein phantastisches Epos, wie ich es zu schreiben gedenke, mögen diese einen fruchtbaren Grund liefern, aber falls du irgendeine wissenschaftliche Arbeit darauf aufbauen willst, ist wohl noch ein wenig mehr Forschung nötig.«
    »Ich glaube, ich werde mir die Zeit nehmen«, antwortete David. Alle seine Sinne waren mit einem Mal sensibilisiert. Das letzte Mal hatte er dieses Gefühl verspürt, als er in einem Schützengraben stand und auf einen Angriffsbefehl wartete. »Ich danke dir, Ronald.«
    »Wofür? Es hat mir doch Spaß gemacht, mit dir zu reden.«
    »Jetzt muss ich aber los. Für morgen steht eine Klausur auf dem Programm.«
    »Hoffentlich treffen wir uns wieder einmal, David.«
    »Wer weiß. Es würde mich jedenfalls freuen. Darf ich dir zum Abschied und als Dank für deine Hilfe ein Geschenk machen?«
    Tolkien runzelte verwirrt die Stirn. »Aber ich sagte dir doch…«
    »Ich möchte es aber«, unterbrach David den angehenden Professor. »Hier, nimm den Beowulf.«
    »Aber das kann ich nicht annehmen…!«
    »Doch, du kannst. Er ist bei dir bestimmt besser aufgehoben als bei mir. Wenn ich den Text je wieder brauche, dann kann ich mir aus der Bibliothek genauso gut ein neueres Exemplar ausleihen.«
    »Also gut«, sagte Tolkien und nahm das Buch dankend aus Davids Händen. Selig lächelnd bemerkte er: »Jetzt muss ich wohl tatsächlich ein Werk über unseren Helden, seine Monster und deren Kritiker verfassen.«
    Auch David lächelte, während er Tolkien zum Abschied die Hand schüttelte. »Tu das. Ich werde es bestimmt lesen.« Ein Hundertjähriger, der gegen ein Ungeheuer kämpft! Wenn mich das nicht interessiert, was dann?

 
    Wiedersehen
     
     
     
    Als sich der Sommer näherte, steckte David seinen Kopf so gut wie überhaupt nicht mehr in die frische Luft. Während draußen das Leben tobte – die Menschen wollten nicht mehr an den Krieg denken, sondern ihr kurzes Erdendasein in vollen Zügen genießen –, brütete er in den Bibliotheken der Universität über seiner Magisterarbeit. Das Kredo der Universität Oxford lautete zwar Dominus Illuminatio Mea, »Der Herr ist meine Erleuchtung«, aber derartige Offenbarungen waren nicht umsonst zu bekommen. Vor den Erfolg hatte der Herr auch hier den Schweiß gesetzt. Selbst der Kreis der Dämmerung wurde für David in diesen Wochen zur Nebensache. Nicht weil er das Interesse an diesem Thema verloren hätte – es fehlte ihm schlichtweg die Zeit.
    Die Aufbruchsstimmung der »wilden 20er« konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa noch lange nicht im Frieden lebte. Allein aus dem Ruhrgebiet kamen wochenlang beunruhigende Nachrichten. Dieses an sich deutsche Staatsterritorium war von den Franzosen zwecks Einforderung fälliger

Weitere Kostenlose Bücher