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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ließ Davids Hand über dem Türknauf verharren. Sie hatte eine Erinnerung in ihm wachgerufen, zwiespältige Gedanken, die einerseits angenehm, andererseits verwirrend für ihn waren. Langsam drehte er sich um.
    Was David nun erblickte, lässt sich mit Worten schwer beschreiben. Der Terminus »Engel« wurde ja unvorsichtigerweise schon verbraucht, obgleich – war es nicht dieselbe lichte Gestalt…?
    Das wundersame Wesen war in ein luftiges, cremefarbenes Kleid gehüllt, auf dem winzige blaue Blümchen wuchsen (wenigstens hatte es den Anschein, als täten sie das). Der gewagte Saum endete bereits knapp unterhalb der Knie.
    Davids Augen erklommen wie zwei trunkene Bergsteiger die angenehm hügelige Landschaft des, trotz allem, zart gebauten Körpers, ruhten für einen Moment auf dem Hochplateau eines züchtigen Dekolletees und setzten dann über den schmalen Grat eines schneeweißen Halses den Aufstieg fort. Ganz oben, auf dem Gipfel, wurde die Luft so dünn, dass es David den Atem verschlug.
    Sie war noch viel schöner geworden! Einzig ihre langen schwarzen Haare vermisste er; sie waren einem feschen Pagenschnitt gewichen. Bei genauerem Hinsehen ließ sich in ihrem Lächeln sogar noch jener Ausdruck unbekümmerter Kindlichkeit entdecken, aber sonst wirkte die Achtzehnjährige schon sehr erwachsen. Sie hatte sich zweifellos zu einer atemberaubenden jungen Frau entwickelt.
    David wurden die Knie weich, sein Zwerchfell flatterte wie ein Segel beim ungeschickten Halsen und sein Mund war seltsam trocken. Mit einem Mal wusste er, weshalb er sich nach seinem letzten Brief an Rebekka so lange so erbärmlich gefühlt hatte.
    »Was ist? Freust du dich gar nicht mich zu sehen oder kennst du mich nicht mehr?«
    David schmatzte in dem verzweifelten Bemühen seine Zunge irgendwie zu befeuchten. »Re-Rebekka…!«
    »Du erinnerst dich also noch an mich.« Ihre Stimme klang streng. Sie sah David an, als erwarte sie etwas Bestimmtes von ihm – ein Willkommenslied, einen Kniefall oder irgendetwas in der Art.
    »Aber… Wie hast du mich gefunden? Ich meine, du kanntest doch nicht einmal meinen jetzigen Namen. Wir haben ja nur immer über Sir Williams Adresse miteinander…«
    Rebekka lachte, ein heller Klang wie das Windspiel aus dem Lazarett von Hazebrouck. Sie machte zwei Schritte auf David zu, küsste ihn erst auf die linke und dann auf die rechte Wange. »Warum werde ich nur den Eindruck nicht los, du hältst mich immer noch für das kleine dumme Ding, das fremden Soldaten Heiratsanträge macht? Guten Abend, mein Lebensretter.«
    »Guten Abend, Lebensretterin. Vielleicht weil ich nicht damit gerechnet habe, hier und heute eine so selbstbewusste und bezaubernde junge Frau zu treffen, die gekommen ist, um ausgerechnet mich zu besuchen.«
    »Bezaubernd?«, wiederholte Rebekka.
    »Das sagte ich, ja.«
    »Und selbstbewusst?«
    David runzelte die Stirn. »›Keck‹ wäre vielleicht das passendere Wort.«
    Rebekka schlug ihm spielerisch mit der Faust auf die Brust. »Du bist unmöglich, David.«
    »Das musst du gerade sagen! Aber nun mal ehrlich, wie hast du mich hier aufgespürt?«
    »Ich habe ihnen gesagt, du seist der Vater meines Kindes.«
    »Was!?«
    »Meines ungeborenen Kindes«, verbesserte sich Rebekka, als wäre damit alles erklärt.
    »Aber du kannst doch nicht…! Ich meine, wie kommst du denn…?« David war fassungslos.
    Rebekka schlang den langen cremefarbenen Seidenschal, der bisher offen über ihren Schultern gelegen hatte, zweimal um den Hals und antwortete: »Wenn ich mich nicht täusche, wolltest du doch sowieso gerade einen Spaziergang machen. Wie wär’s, wenn ich mitkomme? Vielleicht finden wir ja auch noch ein offenes Pub.«
    Als Antwort brachte David nur ein wirres Lautgebilde zustande, das man im weitesten Sinne als Zustimmung deuten konnte.
    David entführte die Mutter seiner ungeborenen Kinder in das Three Goals Heads, das zwischen der Cornmarket Street und St. Peter’s College lag. Sie hatten Glück, denn der Wirt brachte gerade den Aufruf zur letzten Bestellung aus. Mit Lloyd Georges Neuregelung der Öffnungszeiten für britische Pubs war schnell ein neuer Brauch entstanden: Man durfte zwar nach Anbruch der Polizeistunde keine neuen Getränke mehr bestellen, aber das, was man bereits vor sich auf dem Tisch stehen hatte, konnte man in aller Ruhe ausschlürfen. Je nach Großzügigkeit des Lokalbesitzers nahmen auf diese Weise vor manchen Gästen noch ganze Batterien von vollen Gläsern Aufstellung. Bei

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