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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Reparationsleistungen besetzt worden, was nicht gerade auf einhellige Begeisterung unter den Deutschen stieß. Es gab Protestmärsche, bei denen tödliche Schüsse fielen, auch Sabotageaktionen, die zu standrechtlichen Erschießungen führten. Immer häufiger sprach man von einem drohenden Bürgerkrieg.
    Ein ehemaliger österreichischer Gefreiter namens Adolf Hitler traf sogar Anstalten einem angeblichen Linksputsch entgegenzutreten. Zu diesem Zweck schickte er seine NSDAP-Mannen – bewaffnet, gestiefelt und gespornt – in Bayern auf die Straße. Die Polizei zeigte sich echauffiert. Wozu denn eine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Gewehre und Pistolen benötige, fragte man höflich an. Zum Arbeiten doch wohl nicht. Hitler bestritt jede böse Absicht seiner NSDAP-Jungs, geschweige denn so hochverräterische Vorhaben wie einen Putsch. Die bayerische Landespolizei sammelte das Kampfgerät trotzdem ein und Hitlers Aktion beschränkte sich aufs Exzerzieren, einen Umzug und eine Versammlung.
    Charly erzählte von diesen Ereignissen, nachdem er an einem Abend Anfang Mai aus seinem Lieblings-Pub zurückgekehrt war. Seiner überschwänglichen Laune nach zu urteilen, musste er mehrere pints Gerstensaft intus haben. Wenn ihn eine »unvorhersehbar beschleunigte Verdauung« nicht dazu gezwungen hätte, wäre er bestimmt noch bis zum Ausruf der Polizeistunde geblieben, entschuldigte sich der aufgekratzte Student. Das glaubte ihm David unbesehen. Aber auch so hatte Charly den Wirt des Kings Arms bestimmt wieder zu einem glücklichen Mann gemacht.
    David saß noch über seinen Büchern. Ab und zu nickte er wie eine Buddhafigur. Seine Beziehung zu Charles W. H. Callington war längst zu einer Art Symbiose geworden. Charly ließ sich von David, akademisch gesehen, unter die Arme greifen und sorgte im Gegenzug für das »Gaudium«, wie er alle Arten von Belustigung zu nennen pflegte. Weil David in dieser Hinsicht sehr genügsam war, kam Charly, unterm Strich gesehen, immer besser weg. Er spielte in ihrer Zweckgemeinschaft somit die Rolle des Schmarotzers.
    Die Worte sprudelten immer noch aus Charly heraus, als müssten sie dem eingelagerten Bier Platz machen. David nickte. Normalerweise konnte er das tun, ohne sich in seiner Konzentration beeinträchtigen zu lassen, aber an diesem Abend war Charlys emotionelles Feuerwerk besonders ablenkend. Gerade noch hatte er über die Deutschen und ihre angeblich selbst eingebrockte Inflation gewettert, da fing er urplötzlich auch schon an zu weinen. Sarah Bernhardt – die Aktrice war Ende März verstorben – sei einfach unersetzlich! Selbst als Einbeinige habe sie noch ihre jüngeren Konkurrentinnen an die Wand gespielt. Charlys Augen waren ein Quell bittersüßer Tränen.
    David klappte seufzend seine Bücher zu. Aus irgendeinem Grund musste er an Batuswami Bhavabhuti denken. Eine sinnvolle Arbeit war unter diesen Umständen jedenfalls ausgeschlossen. Während Charly noch über seine mögliche Teilnahme am erstmals Ende Mai auszutragenden 24-Stunden-Rennen von Le Mans spekulierte, stand sein Zimmergenosse plötzlich auf und sagte: »Ich gehe noch ein bisschen spazieren.«
    Sichtlich konsterniert blieb der angetrunkene Autorennfahrer zurück.
    Das Dormitorium des University College wurde durch eine kleine Vorhalle betreten, von der die Treppen in die oberen Etagen abgingen. Eine dieser Stiegen war Davids Fluchtweg nach unten. Obwohl er sich das gewiss nur einbildete, meinte er immer noch Charlys hirnloses Gefasel zu hören. Wenn der gute Junge nicht aufpasste, dann würde er die Universität noch als M. A. verlassen, als Master of Alcohols.
    David nahm die letzten beiden Stufen auf einmal und hielt zielstrebig auf die innere Tür des Windfangs zu, den man auf dem Weg nach draußen überwinden musste. Über seinem Kopf hallte ein lautes Lachen durch das ehrwürdige Gebäude. Unwillkürlich sah er im Laufen nach oben. Hoffentlich war Charly nicht auf den genialen Einfall gekommen ihn auf seinem Abendspaziergang zu begleiten.
    Ganz von selbst machten Davids Beine einen Ausfallschritt nach links. Sein sechster Sinn hatte ihm verraten, dass er sonst mit einer anderen Person zusammengestoßen wäre, die just in dem Augenblick das Foyer betreten haben musste, als er den Kopf umwandte.
    »Entschuldigung«, brummte er mechanisch, die helle Gestalt am Rande seines Gesichtsfeldes kaum wahrnehmend. Er wollte nur so schnell wie möglich an die frische Luft.
    »David?«
    Die fragende Stimme

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