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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Hans Arp vorzeitig erschöpften, dann kämpfte Rebekka noch ungestümer für die neuen Wege zur Suche nach der Wirklichkeit im eigentlich Unbegreiflichen, Nichtrationalen des Unterbewusstseins.
    Auch David hatte in seinem Leben das Unbegreifliche kennen gelernt: Der dunkle Schatten aus der Westminster Abbey, der ihn bis auf die Schlachtfelder der Westfront verfolgt hatte, und dann das Grauen des Krieges – alle künstlerischen Ansätze zur Verarbeitung solcher Schrecken, wie sie etwa die Dadaisten verfolgten, wirkten auf ihn nur befremdend. Keine noch so unwirkliche Farb- und Formgebung, kein noch so kakophonisches Lautgebilde konnte jene bedrückend reale Unwirklichkeit wiedergeben, die in seinem Innern, in seiner Erinnerung, noch immer existierte, dort lauerte wie eine Bestie, die nur auf einen günstigen Moment wartete, um wieder hervorzukommen und neues Unheil zu stiften.
    Aber noch hatte David die Luke zu diesem Abgrund seines Unterbewusstseins mit einer dicken Kette aus fast ekstatischem Frohsinn verschlossen. Er konnte sich eben doch nicht ganz diesem Zeitgeist der so genannten »wilden 20er« entziehen, der den Alptraum des Großen Krieges in ungezügelter Lebensfreude zu ersticken suchte.
    Mit dem Jazz waren aus den USA auch neue Formen musikalisch begleiteter Körperertüchtigung nach Europa herübergeschwappt. Sie gaben dem Wort »Tanz« eine viel umfassendere Bedeutung. Verständlicherweise fanden rhythmische Übungen dieser Art vor allem bei der durchtrainierten Jugend Anklang. Auch David und Rebekka entdeckten hier bald einen gemeinsamen Nenner.
    Rebekka war unglaublich beweglich! Wenn sie beim »Shimmey« ihren Körper in wirbelnde und schüttelnde Bewegungen versetzte, dann musste jedem Zuschauer unweigerlich der Kopf schwirren. David bildete da keine Ausnahme. Ein Journalist schrieb abfällig über die neuen Bewegungsformen: »Als Tanz ist Shimmey kaum zu bezeichnen, sein Rhythmus ist Fieberdelirium.« Obwohl David versuchte seinen Kollegen in Schutz zu nehmen, beharrte Rebekka auf ihrem Urteil: Der Schmierfink trüge zweifellos noch die Gamaschen und Ärmelschoner des letzten Jahrhunderts.
    Noch sehr viel breiteren Zuspruch fand dann der Charleston. Auch bei diesem Tanz, der bald zum Kult wurde, bestimmten die engen biologischen Grenzen den Teilnehmerkreis – und einmal mehr hatten die in viktorianischer Prüderie herangewachsenen Alten Grund über die »Verwahrlosung der Jugend« zu klagen. Für David und Rebekka spielten solche Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle. Er hatte alle Angehörigen verloren und sie besaß nur noch eine Mutter, die auf dem Kontinent und damit unendlich fern war. Das soll nicht heißen, sie hätten jede Form von Sitte und Anstand einfach über Bord geworfen. Irgendwie waren sie eben doch die Kinder ihrer Eltern und David verstand es als Ausdruck der Stärke, wenn er sich gegenüber Rebekka nicht die Freiheiten herausnahm, die er sich vielleicht hätte erlauben können. Als vollendeter Gentleman beeindruckte er sein Mädchen eher mit Respekt und Zuvorkommenheit als mit ungestümen Liebesbezeugungen. Erotische Abenteuer – das hatte er aus den diversen Eroberungen seines Zimmergenossen Charly gelernt – hinterließen meist nur einen schalen Nachgeschmack, der anscheinend viel mit dem Kater einer durchzechten Nacht gemein hatte.
    Wenn David und Rebekka allein sein wollten, dann unternahmen sie Spaziergänge. Sowohl Oxford als auch London boten reichlich Auslauf hierfür. Oh, wie er es liebte, ihre zierlichen Füße über englischen Rasen schweben zu sehen! Auch besuchten sie Museen, botanische Gärten, den Londoner Zoo, Madame Tussauds Wachsfiguren, Konzerte, natürlich Tanzveranstaltungen – und Kinos. David war ein leidenschaftlicher Kinobesucher. Er hielt das bewegte Bild für eine der bedeutendsten Erfindungen und prophezeite die baldige Vertonung der flimmernden Streifen. Rebekka erachtete diese Idee für absurd. Wo sollten denn dann all die Kinomusiker hin?
    Obwohl Rebekka den Filmproduzenten, die nun immer öfter in Hollywood arbeiteten, das künstlerische Potenzial der von ihr so verehrten Maler, Bildhauer und Komponisten absprach, lachte sie bei Charlie Chaplins Eskapaden dennoch wie ein Seemann auf Landurlaub. Den Film »The Kid« sah sich das Paar sogar dreimal an. Angeblich gestattete sie diesem unaufhörlich stolpernden Engländer, der eigentlich Charles Spencer Chaplin hieß, nur deshalb vor ihr aufzutreten, weil er sich im letzten Oktober mit der

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