Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
treiben, war ja selbst für einen Straßenjungen ein so abwegiges Unterfangen, dass es bestenfalls für eine mittelmäßige Gruselgeschichte taugte. Aber sollte er es nicht wenigstens versuchen?
»Mr Dudley, Sir, ich muss Ihnen etwas Dringendes sagen.«
»Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mir deine Ausreden anzuhören, Junge.«
»Nein, Sir! Es ist…«
Dudley wandte sich ab und bellte einige laute Befehle. Sie waren inzwischen im Erdgeschoss angelangt. Dort wartete schon eine Gruppe von elf livrierten Pagen. Jeffs Dienstfrack sah wieder einigermaßen sauber aus. Jetzt bekam er – von Dudley persönlich – ein weißes Tuch über den Arm gelegt, ein silbernes Tablett mit einer Suppenterrine in die Hände gedrückt und einen Platz am Ende der Lakaienkette zugewiesen.
»Denk daran, was ich dir gesagt habe, Junge. Immer erst genau hinsehen, wie es die anderen machen. Du bist nicht auf den Kopf gefallen, das habe ich bemerkt. Und halt dich von Seiner Lordschaft fern, damit er deine zitternden Hände nicht sieht.«
Dudley hatte gut reden. Jeffs Hände zitterten tatsächlich, aber wohl weniger wegen seines Debüts als Servierpage. Er wollte einfach noch ein bisschen länger leben. Was sollte er nur tun, damit man ihm Glauben schenkte?
Der lange Marsch durch den Flur zum Mittelbau hinüber war einer der vielen Unsinnigkeiten, die man in englischen Herrschaftshäusern pflegte. Die Suppe würde vermutlich kalt sein, wenn sie erst ihren Weg zwischen Küche und Festtafel absolviert hatte. Aber das bereitete Jeff weniger Kopfzerbrechen. Er war endlich zu dem Schluss gekommen, dass nur drastische Maßnahmen eine Katastrophe verhindern konnten. Während er zwischen den brennenden Feuerbecken hindurchhastete, konzentrierte er sich mehr auf eine Lösung dieses schwierigen Problems als auf die schwappende Flüssigkeit in seiner Terrine.
Die Pagenschlange bewegte sich in viel zu hohem Tempo durch den Gang, wand sich durch die Eingangshalle nach links und schob ihren Kopf wenig später in den von weiteren Leuchtern erhellten Wappensaal. Erst dort begann sie zu zerfallen: Ein Diener ging nach links, der nächste nach rechts, der übernächste wieder – man kann es sich denken.
Jeff blieb die Umrundung der Tafel erspart, denn er durfte dem Logenbruder servieren, der dem Portal am nächsten saß. Es war der Graf aus Sao Paulo. Nachdem alle Pagen hinter ihren Herrschaften Stellung bezogen hatten, begann wie auf ein geheimes Zeichen hin das Servieren. Jeff kannte zwar den Ablauf, vollzog aber dennoch jeden einzelnen Schritt mit leichter Verzögerung, um sich zuvor an seinen Kameraden zu orientieren. Die Tablettträger traten an die rechte Seite ihres persönlich zugeteilten Herrn und füllten mit einer silbernen Schöpfkelle Suppe in die hierzu bereitgestellten Teller. Anschließend überbrückten sie rückwärts gehend eine Distanz von exakt vier Schritten, um dem Esser das Gefühl des Beobachtetseins zu nehmen, dennoch aber etwaigen Wünschen einen Nachschlag betreffend umgehend entsprechen zu können. Von der Galerie aus musste die Szene wie ein sehr modernes Ballett anmuten, das auch die hohen Herrn mit einbezog: Wie einstudiert griffen sie alle nach ihrem Löffel und tauchten ihn in die Brunnenkressesuppe.
Mit steifem Hals, nur die Augen bewegend, wanderte Jeffs Blick die Tafel entlang. Die Sitzordnung hatte sich nicht geändert. Rechts neben dem Baldachin saß Teruzo Toyama, der als Einziger eine wie klare Brühe aussehende Suppe schlürfte. Dem Grafen Zapata direkt gegenüber saß Lord Belial. Jeff kämpfte gegen das starke Frösteln an, das ihn beim Anblick der dunklen Gestalt ergriff. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, Belials Augen seien direkt auf ihn gerichtet.
Ein helles Klirren befreite den Serviereleven von diesem fast hypnotischen Blick – Jeff hatte so stark zu zittern begonnen, dass die Suppenterrine zum Rand des Tabletts gewandert war. Der Junge riss sich von dem Schattenlord los und beobachtete wieder den brasilianischen Grafen. Es war kaum eine Minute vergangen, als Zapatas Kopf plötzlich nach oben schnellte. Jeff zuckte vor Schreck zusammen. Was dann geschah, war grauenhaft.
Zapata saß für einen Augenblick da, als hätte ihn von unten ein Speer durchbohrt und ihn gleich darauf zu Stein erstarren lassen. Dann fiel der schwere Löffel des Grafen in den Teller, Suppe spritzte über das weiße Tischtuch. Jeff ließ entsetzt das Tablett fallen. Zapata stieß einen markerschütternden Schrei aus
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