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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Hauptstraße erreichte, blieb er kurz stehen. Wohin sollte er sich wenden? Zurück nach Tunbridge Wells? Lächerlich! Da würde ihn der Lord als Erstes suchen. Und wenn er sich wie geplant auf den Weg nach Südwesten machte? Er blickte die dunkle Zufahrtsstraße zurück. Nein, Double-O wusste von seinen Zukunftsplänen. Belials Lieblings jünger, Teruzo Toyama, würde seinen Koch zweifellos auspressen wie eine Zitrone. Und dann…
    Schlagartig wurde Jeff die Ursache seiner Verwirrung bewusst, als er Belial und Negromanus zusammen beobachtet hatte. Der dunkle Herr des Waldhauses war schattenlos gewesen! Das heißt, nicht wirklich – jetzt fiel es Jeff wie Schuppen von den Augen. Negromanus war Belials Schatten. Der Lord hatte es ja selbst gesagt, aber Jeff war das nur wie eine bildhafte Äußerung vorgekommen, ein Ausdruck der engen Verbundenheit zwischen Herr und Diener. Aber dass sie so eng zusammengehörten…!
    Es musste mit dem Ring zusammenhängen, den Jeff jetzt in der Tasche trug. Nachdem der Lord ihn vom Finger gestreift hatte, war Negromanus, seine rechte Hand, wie aus dem Nichts erschienen. Jeff begann wieder zu laufen. Es tröstete ihn nicht im Geringsten, was Lord Belial über seine verminderte Macht gesagt hatte während der Zeit, da sein Schatten allein durch die Gegend strich. Wir müssen unsere Macht wieder verschmelzen, damit wir unbesiegbar sind. Jetzt stand ein vierzehnjähriger Junge dieser unseligen Vereinigung im Wege. Jeff konnte sich ausmalen, was das für ihn bedeutete.
    Nein, Tage wie diese sollte es wirklich nicht geben. Nur wenn ihn gleichsam der Erdboden selbst verschluckte, würde er sich vielleicht vor dem dunklen Jäger des Schattenlords verstecken können. Aber Jeff war kein Maulwurf.
    Daher wählte er die einzige ihm vernünftig erscheinende Alternative.
    Ein einzelner Mensch war da am schwersten zu finden, wo es noch Millionen andere gab. Und auf welchen Ort traf das mehr zu als auf die größte Stadt der Welt? Wenn überhaupt, dann würde er in London überleben.

 
     
     
     
    Zweites Buch
     
    Jahre des Wahnsinns
     
     
     
    Wer sein eigenes Leben… als sinnlos empfindet, ist nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig.
     
    Albert Einstein

 
    Das Jahrhundertkind
     
     
     
    Der Schrei erscholl mit dem ersten Glockenschlag. Eigentlich war es nur ein dünnes Krähen über den Dächern von Tokyo, aber dennoch konnte das laute Gedröhn der Turmuhr es ebenso wenig niederzwingen wie das hysterische Lachen einer offenbar ziemlich angeheiterten Dame ganz in der Nähe. Vielleicht lag es daran, dass hier weder Leid noch Lust, weder Furcht noch Tod Laut gaben. Es war etwas viel Machtvolleres: die Melodie eines neuen Lebens.
    Gleichwohl nahmen nur wenige dieses empörte Aufbegehren wahr, das sich da, scheinbar ohne Aussicht auf Erfolg, gegen die so viel größeren Gegner stemmte. Doch als die aufgekratzte Dame ihr Gelächter einstellte und auch die Turmuhr von St. Ambrosius nach dem zwölften Stundenschlag verstummte – wohl meinend, dies sei mehr als genug, um den Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts gebührend einzuläuten –, krakeelte der Winzling noch immer. So klein er auch war, hatte er damit schon den ersten Wettstreit seines Lebens gewonnen. Vielleicht war das der Grund, weshalb ihn seine Eltern David nannten.
    Wenn man einmal von der zahlenmäßig unterlegenen Schar von Europäern und Amerikanern absah, dann spielte der 1. Januar des Jahres 1900 hier nicht gerade die erste Geige im Konzert der matsuri, der für dieses Land so wichtigen Festtage. Offiziell benutzte man den gregorianischen Kalender zwar schon, aber das traditionelle Japan zählte noch die Jahre nach der Regierungszeit seines Kaisers, den es für mindestens ebenso göttlich hielt wie die christliche Welt ihren Heiland. Als daher die Glocken von St. Ambrosius ausklangen, das heisere Brüllen des kleinen David Camden dagegen immer kräftiger wurde, entstand hinter zahllosen Fenstern ein stilles Lächeln. Das Wunder der Geburt galt auch hier als Anlass des Glücks – umso mehr, wenn das Ergebnis die Anatomie eines Knaben besaß.
    Im Hause der Camdens gab es keinen Platz für Ruhe und Besinnlichkeit, schon seit Stunden nicht mehr. Das lag hauptsächlich an Geoffreys hektischem Gebaren. Der englische Adlige im Stande eines Earls war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit sauber gestutztem Vollbart, im Augenblick aber vor allem ein ziemlich nervöser Vater. Seit einer Ewigkeit hatte er nun schon den

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