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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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registrieren ließen, dann konnte es mit der Verschwiegenheit dieses ominösen Ordens nicht allzu weit her sein. Im ganzen Land sollte er gar fünf Millionen Mitglieder zählen. Bestenfalls mochte es unter den Großmeistern des Klans eine Verbindungsperson zum Kreis der Dämmerung geben. David beschloss den Geheimorden im Auge zu behalten.
    Eine andere Zeitungsnotiz setzte, wie schon so oft, bei David eine Assoziationskette in Gang: In Deutschland hatte Adolf Hitler den ersten Band seines Werkes Mein Kampf veröffentlicht. Ursprünglich sollte das Buch Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit heißen, aber dem Verleger war das irgendwie nicht griffig genug gewesen. Ungläubig las David, dass ein gewisser Pater Bernhard Stempfle, der Herausgeber eines kleinen antisemitischen Blattes im oberbayerischen Miesbach, den polemischen Hitlertext redigiert haben sollte. Ein Geistlicher? Wie kam ein Pater dazu, antijüdische Hetzschriften zu lancieren?
    Luce hatte von diesem Hitler gesprochen und sogar die Frage in den Raum gestellt, ob der untalentierte österreichische Maler einer jener Großen sein könnte, die große Ereignisse auszulösen vermochten. Wenn ja, dann musste David auch ihn weiter beobachten, ebenso wie seine politischen Weggenossen Heß, Göring, Maurice, Ludendorff und wie sie alle hießen.
    Bald kamen noch andere hinzu. Während die Wochen über einer ergebnislosen Suche nach Mitsuru Toyama ins Land zogen, baute David ein regelrechtes Archiv auf, das Dossiers über alle möglichen Personen enthielt. Er nannte es das Schattenarchiv, weil er hoffte irgendwann in einem der darin dokumentierten Menschen den Schatten des verhassten Geheimzirkels zu entdecken. In Davids Schattenarchiv befanden sich nicht nur solche Namen wie Hitler, Mussolini oder Stalin, die alle auf eine mehr oder weniger geniale Weise schizophren waren. Er sammelte auch andere, die er für besonders anfällig gegenüber Manipulationen hielt oder die allein wegen ihrer Schlüsselstellungen in Politik, Militär, Wirtschaft und Religion zu entweder begehrten oder verhassten Objekten des Kreises der Dämmerung werden konnten. Sogar Leute wie Eugenio Pacelli, der päpstliche Nuntius in München und Berlin, der sich vor wenigen Wochen nach Rom verabschiedet hatte, gehörten dazu.
    Während Davids Schattenarchiv ständig Zuwachs bekam, blieb die Bewohnerzahl seines Häuschens am Yoyogi-Park unverändert. Die Liebe zwischen ihm und Rebekka war ungebrochen und es verging selten ein Tag, an dem sie sich das nicht bewiesen, aber Kinder wollten auf diesem glückgetränkten Boden dennoch nicht gedeihen.
    Statt mit Babygequake und muffelnden Windeln beschäftigte sich das Paar in seiner Freizeit mit Konzertbesuchen und Spaziergängen im Grünen. In stundenlangen Gesprächen tauschten sie Gedanken und Gefühle aus. Sie besuchten Theater, wobei Rebekka den klassischen Formen der japanischen Bühnenkunst nicht viel abgewinnen konnte. Weder das Noh-Theater noch das kabuki entlockten ihr das laute begeisterte Jauchzen und Kichern, das sie nach wie vor im Kino entwickelte. Einzig das bunraku, ein Puppentheater, bei dem die wichtigen Figuren von jeweils drei Spielern bewegt wurden, faszinierte sie.
    Was den Glamour des Films betraf, so erlebte David an Rebekkas Seite Höhen und Tiefen. Sie schleppte ihn in das neueste Buster-Keaton-Werk Go West, in dem der »Mann mit dem gefrorenen Gesicht« einen Cowboy mimte. Sie versuchte ein Kino zu finden, das Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin zeigte, was zurzeit aber gar nicht oder nur in stark zensierter Form möglich war. Und sie weinte eine einzelne bittere Träne, als Rudolph Valentino am 23. August 1926 im Alter von nur einunddreißig Jahren verstarb. David war ganz froh, dass ihre Trauer sich im Rahmen hielt, denn aus der Zeitung war zu entnehmen, dass sich andere das Leben nahmen, nur weil sie diesen drittklassigen Leinwandliebhaber auf seinem schwersten Gang begleiten wollten. Dabei musste David unweigerlich an General Nogis Reaktion auf Meijis Tod denken. Vielleicht unterschieden sich die harakiribesessenen Japaner ja doch nicht so sehr vom Rest der Menschheit.
    Die Nagelprobe sollte schon in Kürze folgen. Als die westliche Welt vier Monate später mit der Glorifizierung des ewig kindlichen Heilands – dem Weihnachtsfest – beschäftigt war, schockierte der japanische Kaiser Taisho die ausländische Presse mit einer Tat, die zu dieser Zeit unpassender nicht hätte sein können: Er

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