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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Bezeichnung »Palast« ist zugegebenermaßen eine Übertreibung, denn der kaiserliche Sommersitz war eher ein einfaches Landhaus am Meer mit einem Garten, der bis ans Ufer reichte und auf der Landseite von einer Mauer umgeben war. Die meisten Zimmer verfügten über Fenster, die sich zum Garten und damit auch zur See hin öffnen ließen. Die Räume waren japanisch sparsam mit Tatamis und wenigen Möbeln eingerichtet. Nur im Obergeschoss gab es ein im westlichen Stil möbliertes Arbeitszimmer, von dem Hirohito einen Rundblick über die ganze Bucht bis hin zum Berg Fujiyama und zum rauchenden Schlot des Mihara hatte.
    In diesem Raum führten David, Hito und oft auch Dr. Hattori Gespräche, die bis tief in die Nacht hinein dauerten. Die Leibwache patrouillierte derweil vor der Mauer des Anwesens und ahnte nicht im Geringsten, welch irdischen Interessen ihr entrückter Gottkaiser im Palast nachging.
    Nach der Rückkehr aus Sagami fühlte sich David motiviert wie lange nicht mehr. Hito hatte ihm klargemacht, dass bis zur Inthronisierung mindestens noch ein Jahr verstreichen würde, aber allein das Bewusstsein, Freunde wie den Kaiser (und auch dessen Biologielehrer) zu besitzen, schien David regelrecht zu beflügeln.
    Um die Zeit zu nutzen, spornte er Yoshi zu noch intensiveren Bemühungen bei der Suche nach Toyamas Schlupfwinkel an. Gleichzeitig pflegte David sein Schattenarchiv. Mit Bedauern musste er zwei Dossiers ad acta legen. Sie trugen die Namen von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Die beiden italoamerikanischen Anarchisten waren nach langem Tauziehen und mehreren Verschiebungen der Urteilsvollstreckung am 23. August schließlich doch auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden. Angeblich sollten sie einen schweren Raubmord begangen haben, aber sie selbst hatten die nur auf Indizien gestützte Anklage bis zuletzt als Lüge bezeichnet. Angesehene amerikanische Juristen sprachen von einem Fehlurteil David erinnerte sich noch sehr gut, wie argwöhnisch, ja ängstlich sein Vater gerade die Attentate der Anarchisten als Ausdruck des Jahrhundertplans aufgenommen hatte. Nun fragte er sich, ob ihm mit Sacco und Vanzetti nicht vielleicht wichtige Zeugen in seinem Kampf gegen den Kreis der Dämmerung genommen worden waren. Konnte es möglich sein, dass der Geheimzirkel selbst dieses »Fehlurteil« lanciert hatte, um verräterische Spuren zu verwischen?
    Während Rebekkas Klaviersonaten das Haus erfüllten, kam der Termin der Inthronisation immer näher. Endlich hatte der Hof verlautbaren lassen: Am 9. November 1928 sollte der neue Kaiser in einer prunkvollen Zeremonie auch formal die Würde übertragen bekommen, die er bereits seit fast zwei Jahren besaß.
    Die Ereignisse des Jahres rauschten nur so an David vorüber. Abgesehen von den Themen, über die er selbst schrieb, interessierte ihn kaum noch etwas. Am 1. Mai gaben die deutschen Opelwerke bekannt, mit dem Flieger Antonius Raab einen Vertrag über den ersten Raketen-Weltraumflug abgeschlossen zu haben. Hunderte Begeisterte hätten sich bereits freiwillig gemeldet ihn auf seinem Jungfernflug zu begleiten. Na und? David ignorierte es.
    Im August begann die Daven Corporation aus Newark, New Jersey, mit dem Verkauf von Fernsehempfängern zum Stückpreis von fünfundsiebzig Dollar. In Davids Hinterkopf ging bei dieser Nachricht zwar ein Warnlicht an, aber weil er dieses Gefühl nicht einordnen konnte, schrieb er nur eine Notiz und legte sie unter der Rubrik »Sonstiges« in seinem Schattenarchiv ab.
    Er hörte auch kaum zu, als Rebekka ihm im Monat vor der Inthronisierung beim Frühstück erzählte, im Londoner St. Mary’s Hospital habe ein gewisser Alexander Fleming mit grünlichen Schimmelpilzen herumexperimentiert und dabei eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Die flauschigen Pilze seien unter dem malerischen Namen Penicillium notatum bekannt, weshalb der neue Wirkstoff Penicillin heißen solle.
    David schüttelte sich. Schimmelpilze! Ekelhaft! »Was kann er da schon Gescheites herausgefunden haben?«
    »Sie fressen Staphylokokken«, erwiderte die Tochter einer der ersten Medizinerinnen des Jahrhunderts pikiert. »Du hast wahrscheinlich noch nie unter einem Karbunkel gelitten.«
    David sah seine verstimmte Ehefrau an wie jemand, der gerade ein epochales Ereignis verschlafen hatte. Natürlich besaß er genug medizinische Vorbildung, um sich etwas unter einer eitrigen Hauterkrankung vorstellen zu können. Was ihn so betroffen machte, war jedoch weniger seine

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