Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
mangelnde Würdigung der wissenschaftlichen Entdeckung als vielmehr die Teilnahmslosigkeit gegenüber Rebekka. »Entschuldige, Schatz, ich war mit meinen Gedanken gerade ganz woanders.«
Rebekkas Blick wurde unvermittelt weich. Sie nahm lächelnd Davids Hand und sagte mit sanfter Stimme: »Das bist du in letzter Zeit sehr häufig, Liebster. Es hängt mit Hirohitos Inthronisierung im nächsten Monat zusammen – habe ich Recht? Du weißt nicht, was passieren wird, wenn du auf Toyama triffst.«
David zog ihre zarte Hand an seine Lippen und küsste sie. »Ich wünschte, diese Jagd hätte endlich ein Ende. Toyama muss inzwischen ungefähr achtzig Jahre alt sein, aber nach den wenigen jüngeren Zeugenaussagen, die Yoshi bekommen konnte, sieht er nicht einmal wie ein Vierzigjähriger aus. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Entweder er ist wirklich nur Teruzo Toyamas Sohn oder er besitzt mehr Macht, als mir lieb sein kann.«
Die beiden Schwerter steckten tief im Gepäck vergraben. Es war Donnerstag, der 8. November, als David mit seiner Frau den Zug nach Kyoto bestieg. Dort, in der alten Kaiserstadt, würde Hirohito in zwei Tagen inthronisiert werden. David wusste selbst noch nicht, ob er das wakizashi heimlich zu den Feierlichkeiten mitnehmen sollte.
Natürlich würde sich niemand mit einer Waffe in die Nähe des Tennos wagen dürfen, aber Hito hatte David zugesichert, er und Rebekka ständen unter seinem persönlichen Schutz. Offiziell waren sie (ebenso wie auch Yoshiharu Ito) Ehrengäste des Hofes. Polizei und kaiserliche Leibgarde würden sie nicht mit Durchsuchungen behelligen.
Hito hatte seinem Jugendfreund weder zu- noch abgeraten sich gegen Mitsuru Toyama zu bewaffnen. Seine diesbezügliche Äußerung klang eher wie ein delphisches Orakel. Die japanische Sprache eignet sich hervorragend, um jemanden zu verunsichern. Ihr Wortschatz ist wie geschaffen, um indirekte Äußerungen auszusprechen, die als Zustimmung, aber auch als Ablehnung ausgelegt werden können. Vielleicht lag es ja in Hitos Absicht, David ein Zugeständnis einzuräumen, das er ihm als Mikado offiziell nicht geben durfte.
David und Rebekka bezogen eine Suite im Grand Hotel, das zwischen dem Nish Honganji, dem Higash Honganji und dem Toji-Tempel lag. Kyoto war mit Schreinen und Tempeln gepflastert wie sonst kaum eine Stadt in Nippon. Hier hatten die Kaiser über ein Jahrtausend lang residiert, Edo war erst von Hirohitos Großvater Mutsuhito zum Tokyo einer neuen Ära gemacht worden.
Weil die bald zweitausendsechshundertjährige Kaiserdynastie auf den Säulen einer tief verwurzelten Ahnenverehrung ruhte, unterlag auch die Inthronisierung einem uralten religiösen Ritus. David beherrschte den Ablauf inzwischen fast so gut wie der neue Kaiser.
Hirohito und Nagako sollten erst am kommenden Abend, also am Freitag, aus Nagoya anreisen. Vermutlich würden sie in der Nacht wenig schlafen, denn sie mussten höchst komplizierte Kleidungsstücke anlegen: Dem Kaiser war ein feierliches Gewand aus weißem Seidendamast vorgeschrieben; Nagako würde in einem kunstvollen Damastkleid mit Schleppe und einer unübersichtlichen, von zahllosen Ziernadeln stabilisierten Frisur unter die Augen der Öffentlichkeit treten. Am Morgen mussten sie sich auf den Weg zum Kashiko-Dokoro machen. Dabei würden auch die in- und ausländischen Gäste sie bestaunen dürfen. Dort – in dem Kaiserlichen Heiligtum – angekommen, oblag Hirohito die Aufgabe seiner Ahnin, der Sonnengöttin Amaterasu, die Thronbesteigung mitzuteilen. Um ihre Aufmerksamkeit zu wecken und ihren Segen zu erbitten, sollte er ihr fernerhin – begleitet von Gebeten und ritueller Musik – etwas zu essen anbieten. Mit dem Speiseopfer endete dann auch jener Teil der Feier, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit, also nur im Familienkreis, begangen wurde.
Am Nachmittag bekamen dann mit der prunkvollen Inthronisierung wieder alle etwas zu sehen, damit »die lebende Welt erfahre, was am Morgen der Welt der Geister bekannt gegeben worden war«. Herolde eilten dem Kaiserpaar voraus, damit auch niemand etwas verpasste. Vorhänge wurden gelüftet, was den Versammelten einen unverstellten Blick auf die Thronsitze unter dem Baldachin gewährte: Hirohito trug jetzt Orange, die Farbe der aufgehenden Sonne. Nun musste er gegen Trommel- und Zimbelklang sowie dröhnende Glockenschläge ankämpfen, um all jenen, die es noch nicht wussten, mitzuteilen, dass er der neue Mikado war. Auf diese Auskunft hin hatten
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