Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
an.
Verzweifelt reckte David den Hals. Hin und wieder musste er drängelnde Körper auf Abstand halten. Rebekka klammerte sich an ihn.
»Kannst du ihn sehen?«, fragte er Yoshi.
»Unmöglich. Es ist einfach zu viel los. Wir müssen wohl warten, bis der Mikado sich den Geistern seiner Ahnen vorgestellt hat.«
Enttäuscht verließen die drei kurz darauf den Schauplatz des Spektakels. Yoshi hatte Recht. Wenn die geladenen Gäste erst auf ihren Tribünen saßen und auf die offizielle Vorstellung des neuen Kaisers warteten, würde sich Mitsuru Toyama nicht so leicht in der Menge verstecken können. Dafür sorgte schon die Sitzordnung.
Leises Gemurmel erfüllte den Platz vor dem Kaiserpalast. Alle blickten auf die geschlossenen Vorhänge unter dem Baldachin. Die Tribünen davor waren in U-Form angeordnet. Der Platz zwischen den ansteigenden Sitzreihen war ebenfalls mit Stühlen ausgefüllt. David und Rebekka saßen auf der Mitteltribüne bei den Ausländern, Yoshi unten bei den Untertanen des Kaisers. Alle drei hielten nach einem auffällig großen Japaner um die vierzig Ausschau.
Unter den vielen ausgebrüteten, diskutierten und wieder verworfenen Plänen hatte sich schließlich einer gefunden, zu dem sich das Trio durchringen konnte. Die Idee dazu ging auf ein nächtliches Ereignis im Londoner Amüsierviertel Soho zurück. Ein Dutzend Jahre waren seitdem vergangen, doch Davids Gedächtnis hatte die Erinnerung zum richtigen Zeitpunkt wieder zu Tage gefördert. Allerdings war der jetzige Plan ungleich gewagter, weil David seine Gabe noch nie auf diese Weise eingesetzt hatte. Yoshi war nur im Groben mit Davids Fähigkeiten vertraut, was ihn eine ziemlich kritische Einstellung gegenüber dem Vorhaben einnehmen ließ.
Wieder einmal trafen sich Davids und Yoshis Blick über eine Distanz von ungefähr zwanzig Yards. David hob in einer fragenden Geste die Handflächen, der gedrungene Japaner antwortete mit einem ratlosen Schulterzucken. Nichts. War der fanatische Patriot Mitsuru Toyama vielleicht doch nicht erschienen, um seinem Kaiser die Reverenz zu erweisen?
David zuckte zusammen, als er plötzlich die Stimmen der Herolde vernahm. Er hatte sich ganz und gar auf die Gesichter der Menge konzentriert. Dabei war ihm der Auftritt der Männer in ihren traditionellen Hofgewändern überhaupt nicht aufgefallen. In dem Moment, als sie in getragenem Ton die Stimme erhoben, um das Kommen des Kaisers und der Kaiserin anzukünden, bemerkte er einen hoch gewachsenen schwarzhaarigen Asiaten, der wie aus dem Nichts hinter der Tribüne zu seiner Linken erschien und sich auf einen reservierten Randplatz setzte.
Davids Herz begann schneller zu klopfen, seine Hände verkrampften sich, was Rebekka sogleich bemerkte, weil sie seine Linke hielt.
»Was ist?«, flüsterte sie.
»Dort!«, antwortete David und deutete unauffällig mit dem Kopf zu dem späten Gast hin. Der große Mann trug eine Marineuniform mit weißen Handschuhen. Warum musste Yoshi nur gerade jetzt wie gebannt auf die Vorhänge starren! »Bleib hier sitzen und rühr dich nicht von der Stelle«, befahl David und ehe Rebekka protestieren konnte, hatte er sich schon vom Platz erhoben.
Da! Endlich drehte sich Yoshi um. David sah auffällig in die Richtung des Mannes, den er für Toyama hielt. Sein Freund folgte dem Blick und fand schnell das richtige Gesicht. Es war flach, breit und kantig, wirkte fast ein wenig koreanisch. Yoshi wandte sich wieder David zu und nickte unmerklich.
Von nun an blieb ihnen nicht viel Zeit. In dem Moment, als sich unter dem Baldachin die Vorhänge öffneten, erhob sich Yoshi von seinem Sitz und ging zielstrebig auf Toyamas Tribünenplatz zu. David bewegte sich seinerseits nach links an den Rand der Ausländertribüne. Er ignorierte die vereinzelten Proteste. Die meisten Zuschauer waren ohnehin damit beschäftigt, den Kaiser und die Kaiserin durch Hochrufe und andere Beifallsbekundungen willkommen zu heißen.
Als die Trommeln und Zimbeln erklangen, war die Aufmerksamkeit aller Zuschauer abgelenkt. Genau in diesem Moment überreichte Yoshi mit einer ehrerbietigen Verneigung eine kleine gefaltete Karte an den mutmaßlichen Toyama. David sah, wie der große Japaner etwas zu dem Boten sagte, offenbar eine Frage. Warum machte sich Yoshi nicht endlich aus dem Staub?
David hatte den »Sperrbezirk« verlassen. Er steuerte nun direkt auf die Tribüne zu, die ausschließlich den Japanern vorbehalten war. Jeden Moment konnte ihn einer der
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