Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Landsmann die Treppe hinunter. Der Alte würde sich unweigerlich das Genick brechen, Davids Sekundenprophetie verriet ihm auch das. Mit drei, vier langen Sätzen eilte er der menschlichen Lawine entgegen. Er hatte Mühe, von dem gewichtigen Mann, dessen Figur zum Rollen wie geschaffen war, nicht mitgerissen zu werden. Obwohl er sich mit aller Kraft gegen den herankugelnden Leib anstemmte, taumelte er wieder eine Stufe zurück und dann noch eine. Nachdem er den Alten gerettet hatte, war Toyama verschwunden.
Er überließ den Gestürzten hilfreichen Händen und machte sich wieder an die Verfolgung Toyamas. Als er die obere Sitzreihe erreicht hatte und dahinter fast vier Yards in die Tiefe blickte, fehlte von seinem Widersacher noch immer jede Spur.
Toyama hatte den Sprung gewagt, um sich zu retten, David tat es aus Verzweiflung. Als er sich auf dem Rasen unterhalb der Tribüne abrollte, waren seit dem Bersten des Geländers kaum sechzig Sekunden vergangen. Viele der Zuschauer vor dem Baldachin hatten den Zwischenfall nicht einmal bemerkt. Und der Kaiser, dem er sehr wohl aufgefallen war, tat alles, um das Zeremoniell wieder in geordnete Bahnen zurückzuführen. Derweil sah sich David mit einem neuen Problem konfrontiert: Von allen Seiten stürmten Leibwächter auf ihn zu.
»Verfolgt den Attentäter!«, schrie er in bestem Japanisch, deutete in eine beliebige Richtung und begann loszulaufen. Er hoffte auf diese Weise wenigstens nicht gleich erschossen zu werden.
Das Areal des alten Kaiserpalastes von Kyoto hatte zwar nicht die Ausmaße der neuen Tokyoter Residenz, bot aber dennoch eine fast unbegrenzte Anzahl von Schlupfwinkeln. David rannte über Parkwege, blieb an Kreuzungen stehen, stürzte weiter, aber im Grunde war es nur noch ein verzweifeltes Herumlaufen, das einzig dem Zweck diente sich nicht der unbequemen Wahrheit zu stellen: Mitsuru Toyama war entkommen.
Endlich blieb David mit auf die Knie gestützten Händen keuchend stehen und ließ sich von Hitos Leibgarde einfangen. Er hatte Toyama unterschätzt. Trotz seiner außergewöhnlichen Gaben war er wie ein dummer Junge auf seine Finten hereingefallen. In seiner Niedergeschlagenheit und ohnmächtigen Wut zitterte er am ganzen Körper. Eine größere Anzahl kräftiger Hände packte ihn.
»Sie haben die Zeremonie gestört!«, schrie ihn ein junger Offizier an.
»Und Sie haben einen Attentäter laufen gelassen«, antwortete David mit bitterer Stimme.
»Wer sagt mir, dass nicht Sie der Attentäter sind?«
»Waren Sie nicht auf dem Festplatz?«, fauchte David den Soldaten an. »Haben Sie nicht gesehen, wer der Jäger und wer der Verfolgte war? Dieser Riese hat mit irgendetwas Schwarzem auf mich gezielt und er hätte einem verdienten alten Ehrenmann fast das Genick gebrochen, wenn ich ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre. Handelt so etwa ein Attentäter?«
Davids Erbostheit war nur zum Teil echt. Wenn man ihn durchsuchen und das Kurzschwert bei ihm finden würde, dann hatte er beste Aussichten von einem übereifrigen Leibwächter in kleine Stücke gehauen zu werden. Wie erleichtert war er doch, als in diesem Moment hinter ihm eine Stimme erklang, die ihm nur allzu vertraut war. »Behandeln Sie diesen britischen Staatsbürger mit dem ihm gebührenden Anstand, Oberst. Er ist ein treuer Freund des Kaiserhauses.«
David drehte sich um. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er nicht nur Yoshi, sondern in dessen Begleitung auch seine Ehefrau sah. Rebekka eilte sogleich zu ihm und umklammerte ihn mit ihren Armen. David umfasste ihre Taille und sagte zu seinem ältesten Freund: »Yoshiharu, du hättest ruhig etwas früher kommen können, um diesen Herren Manieren beizubringen.«
Der untersetzte Japaner grinste säuerlich. »Schau dir doch meine kurzen Beine an. Wie hätte ich das anstellen sollen?«
»So einfach ist das nicht«, mischte sich der Oberst der Leibwache in das Gespräch der beiden Freunde ein. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich bin Graf Yoshiharu Ito«, antwortete Yoshi und nahm Haltung an, um gleich darauf eine sparsame Verbeugung zu machen. Dem Soldaten schien der Name nicht viel zu sagen, weshalb Davids Freund hinzufügte: »Der Oheim meines Vaters war Prinz Hirobumi Ito. Sie können im Übrigen den Sekretär des Geheimsiegelbewahrers um ein Leumundszeugnis für mich und Mr Murray bitten. Er wird Ihnen bestätigen, was ich Ihnen gesagt habe.«
Die geballte Nennung derart wichtiger Persönlichkeiten warf den jungen Offizier fast um. Er machte mehrere
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