Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Gästebuch des noblen Chicagoer Drake-Hotels ein. Die für einen Time-Korrespondeten reichlich luxuriöse Suite im Drake sollte eine kleine Entschädigung für Rebekka sein, die in den letzten Wochen so viele Strapazen hatte hinnehmen müssen.
Im März mietete David eine nette möblierte Wohnung am Washington Square. Tagsüber war er nun damit beschäftigt, Nachrichten aufzuspüren und fähige Journalisten zu finden, die entweder als freie oder auch als Teilzeitreporter für Time arbeiten wollten. Ihm war klar, er befand sich nur auf Abruf in der Stadt, aber wenn er irgendwann – vielleicht sehr plötzlich – seine Jagd wieder aufnahm, dann wollte er in Chicago keinen Scherbenhaufen hinterlassen.
Wenn man einmal von den häufigen Zeitungsmeldungen absah, dann bekam der normale Bürger wirklich nicht sehr viel von den Bandenkriegen mit, die Rebekka so beunruhigt hatten. Bald begann sie sogar die angenehmen Seiten der Stadt zu genießen. Im Vergleich zu den New Yorkern waren die Bewohner von Chicago wesentlich lockerer und allem Neuen gegenüber sehr viel aufgeschlossener. Das konnte man schon an den zahlreichen Wolkenkratzern erkennen, die es hier gab. Daran gemessen war New York – wenn man einmal vom Woolworth Building, dem nach wie vor höchsten Gebäude der Welt, absah – noch ein Freilichtmuseum für die Architektur des letzten Jahrhunderts, wenn auch ein ziemlich großes.
Die Jazzszene Chicagos war weit über die Grenzen der Stadt hinaus berühmt, was vor allem Rebekka zu schätzen wusste. Sie wurde nie müde David abends zu einem »kleinen Spaziergang« zu drängen. Obwohl er längst wusste, wo diese Ausflüge regelmäßig endeten, schmolz sein tagesmüder Widerstand meist sehr schnell dahin. Wenige Blocks von ihrer Wohnung entfernt lag das legendäre Blue Chicago. Im Lokal konnte sich dann auch David kaum mehr der vor Leben nur so sprühenden Virtuosität der überwiegend schwarzen Musiker verschließen. Und wenn er erst Rebekkas glühende Augen sah, während sie den beschwingten oder schwermütigen Klängen lauschte, dann entschädigte ihn das für so manch kurze Nacht. Rebekka hatte an seiner Seite bisher nicht viel Anlass zur Freude gehabt. Wenn er ihr auf diese Weise ein wenig Glück schenken konnte, dann hatte sie das mehr als verdient.
Unter dem Namen David Hulburd leistete der neue Chicagoer Time-Korrespondent wahre Pionierarbeit. Bald hatte David im Gebiet der Großen Seen ein Netz von so genannten Stringern aufgebaut, die für ihn Augen und Ohren offen hielten, um den Rohstoff des Magazins – Nachrichten – möglichst schon im Entstehen auszumachen. Einige freie Mitarbeiter lieferten ihm zudem regelmäßig Artikelentwürfe, die er meist noch überarbeitete, um sie anschließend nach New York zu schicken, wo sie ein weiteres Mal auf den Time-Stil zurechtgefeilt wurden, damit Hadden und Luce dann das fertige Magazin noch einmal zerpflücken konnten.
Davids Aufbauarbeit für Time wurde ein wenig dadurch erleichtert, dass es während der ersten Jahreshälfte aus der Region wenig Weltbewegendes zu berichten gab. Da gehörte der Sturmlauf auf die neuen Tonfilme der Stadt schon zu den Topnachrichten. Al Johnson feierte mit seinem Streifen Der singende Narr Erfolge. Gleichwohl war das neue Medium ziemlich umstritten. Vor allem die Kinomusiker beschwerten sich. Sie glaubten herausgefunden zu haben, dass der Tonfilm Gehör und Augen verderbe und zudem höchst nervenzerrüttend wirke. Nur das »alte« Kino mit Bühnenschau und Orchester könne die gesuchte Entspannung und Erbauung bieten.
Ein halbes Jahr nach Davids und Rebekkas Rückkehr in die Vereinigten Staaten kam dann das ersehnte Telegramm. Der Text war kurz.
Habe den Schwanz des Drachens entdeckt – stopp – Y – stopp –
Das war die vereinbarte Parole. Hätte Yoshi Toyama selbst ausfindig gemacht, so wäre in der gekabelten Nachricht vom »Kopf des Drachen« die Rede gewesen. Davids Antwort an den Freund in Japan fiel noch kürzer aus.
Der Drachentöter kommt – stopp – D – stopp –
Ende Juni saßen David und Rebekka schon wieder im Bauch eines Schiffes. Nur diesmal dampften sie nach Osten. Am 23. Juli lief der Liner in den Hafen von Yokohama ein. Nachdem der Ankunftstermin feststand, hatte David seinen Freund informiert; aber Yoshi wartete nicht am Pier und winkte.
»Wir haben einen halben Tag Verspätung«, sagte David, mehr um sich selbst zu beruhigen.
»Am besten, du rufst ihn gleich an. Dann können wir
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