Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
gesagt habe.«
»Schon gut. Aber mach schnell. Ich finde es irgendwie unheimlich hier draußen.«
Im Haus hatte die Dunkelheit bereits Einzug gehalten. Als David durch die offene Schiebetür trat, war er daher so gut wie blind. In diesem Reich der Schatten musste er sich ganz auf seine übrigen Sinne verlassen – einschließlich der, die ihm zusätzlich gegeben waren. Er fühlte die schwüle Tageshitze, die sich vor der Nacht in das Haus verkrochen zu haben schien. Irgendwo sirrte ein Insekt, unschlüssig, ob es seinen Stachel in den Eindringling stechen sollte. Als es sich endlich dazu durchrang, besiegelte es damit sein Todesurteil: David hatte es aus der Finsternis geschnappt, ehe es seinen schweißnassen Nacken auch nur ritzen konnte.
Zum Glück sind traditionelle japanische Häuser sehr spartanisch eingerichtet, weshalb das Risiko, im Dunkeln gegen ein Hindernis zu stoßen, vergleichsweise gering ist. David überlegte, ob er den nächstgelegenen Lichtschalter ansteuern sollte, entschied sich aber dagegen. Es war nur so ein unbestimmtes Gefühl, aber wenn sich wirklich noch ein Fremder im Haus befand, dann wollte er ihn nicht aufschrecken. Langsam, damit er kein Geräusch verursachte, zog er das Kurzschwert.
Problemlos gelangte er in den Flur, von dem aus man zu den Tatami-Zimmern gelangte. Seine Zehenspitzen tasteten nach Schuhen auf dem Erdboden. Wenn Yoshi in einem der Räume war, dann würden diese hier draußen stehen. Mittlerweile hatten sich Davids Augen so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass er unterschiedliche Schwarztöne erkennen konnte. Vor ihm befand sich eine offene Schiebetür.
David lauschte. Noch immer war nicht der geringste Laut zu hören. Er schlich auf den offenen Raum zu. Wenn die Schatten ihn nicht täuschten, dann musste es das große Zimmer sein, in dem die Itos früher immer ihre Gäste empfangen hatten. Lautlos trat David ein. Und erstarrte.
Auf der Reisstrohmatte am Boden befand sich etwas, das wie eine dunkle Wolke aussah. David streckte die linke Hand aus und fand blind den Lichtschalter. Als die Glühlampe den Raum erleuchtete, wusste er, dass seine schlimmsten Befürchtungen eingetroffen waren. Yoshi lag reglos vor ihm. In seinem eigenen Blut. Es war noch nicht einmal ganz geronnen. Er konnte noch nicht lange da liegen.
Eine Woge der Übelkeit stieg in David auf. Er hatte im Krieg wahrhaft viele grausige Bilder gesehen, aber das hier unterschied sich von ihnen in einem wesentlichen Punkt: Es war sein bester Freund, aus dessen aufgeschlitztem Leib da ein wakizashi ragte.
In diesem Moment nahm David hinter sich eine Bewegung wahr und fuhr herum.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Rebekka schnell, als sie die blitzende Klinge seines Kurzschwertes und seinen entsetzten Blick bemerkte.
»Bleib da, wo du bist, Rebekka.«
»Aber wieso? Ich habe von draußen das Licht gesehen. Ist Yoshi nicht zu Hause?«
»Ich wünschte, er wäre es nicht.«
Jetzt weiteten sich auch Rebekkas Augen. Sie blickte zu der Reispapierwand hin, die von innen her beleuchtet wurde.
»Ist er… da drin?«
Tränen traten in Davids Augen und er nickte.
»Doch nicht…?«
»Wir sind zu spät gekommen. Er ist tot, Rebekka. Jemand hat es so aussehen lassen, als hätte er seppuku begangen.«
»Aber bist du auch ganz sicher…«
»Bleib, wo du bist!«, hielt David seine Frau zurück, die unbedingt durch die offene Schiebetür sehen wollte. »Ich überzeuge mich selbst von seinem Tod.«
David zweifelte nicht daran, dass Toyamas Meuchler ganze Arbeit geleistet hatten. Als er Yoshis Halsschlagader betastete, war es nur das Siegel auf einer dunklen Gewissheit. Sein ältester Wegbegleiter lebte nicht mehr.
Rebekka hatte sich nicht zurückhalten lassen. Im Lazarett ihrer Mutter war sie so vielem Elend begegnet, dass nicht Yoshis Blut sie schreckte. Aber wie bei David war es der Anblick des leblosen Körpers eines treuen Freundes und geliebten Menschen, der sie laut schluchzen ließ. David entledigte sich seines Kurzschwerts und eilte zu ihr. Als er sie in den Armen hielt und ihren Rücken massierte, fühlte er das Beben ihres Körpers. Sanft schob er sie aus dem Raum.
»Warum er?«, fragte Rebekka immer wieder. »Warum Yoshi? Er hat Toyama doch nichts getan.« Natürlich wusste sie, dass es nicht so war. Jeder, der Toyama oder irgendeinem anderen Mitglied des Kreises der Dämmerung nachspionierte, begab sich dadurch in Gefahr Hätte David seine zitternde Frau nicht beruhigen müssen, wäre er
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