Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
anderen Teilen der Welt glaube, aber in China und Japan gebe es einen Hang, alles den guten oder den bösen Kräften zuzuschreiben, die das Universum zusammenhielten. So mancher Sohn Nippons würde kein wichtiges Vorhaben an einem Tag beginnen, der unter dem Vorzeichen des yin stände, des Negativen, Dunklen, Unheilvollen. Ein Datum, bei dem der Aspekt des yang vorherrsche, sei in jedem Fall zu bevorzugen. Im Allgemeinen seien diese Kräfte ausgeglichen und das Weltengefüge stabil, aber hin und wieder trete eine Ära ein, in der das yin, das Böse, die überhand zu gewinnen drohe. In diesen dunklen Zeiten, so glaubte Suda, würden die Mächte des Guten ein Jahrhundertkind senden, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Maggy gefiel diese Erklärung überhaupt nicht. Sosehr sie den Glauben und die Tradition ihres Gastlandes auch respektierte, so wenig wollte sie doch als gute Christin mit derart heidnischem Gerede zu tun haben. Aber jetzt war nicht die Zeit für einen religiösen Disput mit Suda. Dazu fühlte sich Maggy viel zu schwach. Die Schilderungen der Hebamme machten ihr einfach nur Angst. Heftiger, als es sonst ihrer Art entsprach, schmetterte sie die Erklärungen Sudas ab: Alles nur abergläubisches Geschwätz, für das Seelenheil eines Christenmenschen höchst abträglich. Ihr Sprössling ein Bote des yang? Ausgeschlossen!
Geoffrey bewahrte einen klaren Kopf. Der Earl of Camden rangierte in der Hierarchie der hiesigen britischen Gesandtschaft gleich hinter dem Botschafter. Er war es gewohnt, mit heiklen Situationen umzugehen. Sein analytischer Verstand genoss bei den Japanern ein hohes Ansehen.
»Sei Maggy bitte nicht böse, Suda. Sie meint es nicht so.«
»Ich weiß«, antwortete die Hebamme lächelnd. »Gedanken von junger Mutter sind manchmal wie Teeblätter im Aufguss: Alles geht durcheinander und man kann nicht blicken durch.«
Geoffrey bedankte sich für Sudas Nachsicht und kam dann noch einmal auf deren Erläuterungen zurück. »Warum nennt ihr die weißhaarigen Neugeborenen ›Jahrhundertkinder‹ und was sind das für besondere Gaben, von denen du gesprochen hast?«
Ein »Kind des Jahrhunderts« heiße so, weil seine Lebensspanne auf genau einhundert Jahre bemessen sei, antwortete Suda. Das japanische seiki no ko könne jedoch auch mit »Kind der Jahrhunderte« wiedergegeben werden – die alten Legenden seien sich nicht ganz einig darin, ob dieses Kind die Wiedergeburt ein und desselben Befreiers war oder ob sich in seinem Namen nur die gemeinsame Bestimmung aller Kinder ausdrückte. Ein buddhistischer Weiser habe ihr einmal von den »himmlischen Bodhisattwas« erzählt, erinnerte sich Suda. Diese zukünftigen Buddhas verschöben selbstlos ihren verdienten Eingang in das Nirwana, um in zahllosen Leben anderen zu dienen und ihnen zu helfen auch dieses höchste aller Ziele zu erreichen. Suda räumte Zweifel an dieser Darstellung ein. Unbestreitbar sei jedoch der Gedanke an einen wiederkehrenden Retter tief im Glauben der Menschen verwurzelt. Die verschiedenen Legenden mussten einen gemeinsamen Ursprung haben. Wie sonst wäre ihr bemerkenswerter Einklang in Bezug auf die Lebensspanne des Befreiers von haargenau einhundert Jahren zu erklären? Das sei mehr Zeit, als die meisten Menschen zur Verfügung hätten, um aus ihrem Erdendasein etwas Sinnvolles zu machen, bemerkte Suda weise. Für die Jahrhundertkinder bedeute ihre ungestüme Lebenskraft eine machtvolle Waffe im Kampf gegen das übermächtige Böse. Deshalb würden sie geboren, um das Gleichgewicht des yin und yang wiederherzustellen. Die Gaben, die sie hierzu in die Wiege gelegt bekämen, seien leider nicht vorhersehbar. Jedes Kind müsse diese selbst entdecken und lernen sie im Sinne seiner Bestimmung weise einzusetzen.
Maggy begehrte erneut gegen Sudas ketzerisches Gerede auf, und um sie nicht weiter zu ängstigen, ließ Geoffrey es bei dem Gehörten bewenden. Obwohl – er konnte es nicht verbergen – die Worte der Hebamme ihn gehörig aufgewühlt hatten, wirkte er beruhigend auf die Mutter ein. Er streichelte, noch ein wenig unbeholfen, den Kopf des nun eingeschlafenen Kindes und redete mit sanfter Stimme auf Maggy ein. Auch er halte sich durchaus für einen guten Christen, wenn auch sein Glaube eher von praktischer Natur sei. Sie solle es einmal so sehen: Der Allerhöchste würde sich seine Pläne mit der Erde wohl weder durch Menschen noch durch gefallene Engel durchkreuzen lassen. Und wenn es doch jemand versuche, dann müsse
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