Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Teppich vor der Tür mit seinen Füßen traktiert. Im Raum nebenan lag Margret in den Wehen. Maggy, wie er sie liebevoll nannte, hatte sich vor einer Stunde mit ihrer japanischen Hebamme Suda gegen ihn verschworen und ihn kurzerhand auf den Flur verbannt, weil sie sich, wie sie sagte, nicht um zwei Kinder gleichzeitig kümmern könne. In gewisser Hinsicht war Geoffrey ihr jetzt sogar dankbar dafür, denn so dämpfte die Tür wenigstens etwas ihre Schmerzensschreie, die ihm jedes Mal wie Schwertstiche durch den ganzen Leib gingen. Er hätte nie gedacht, dass eine Geburt für die werdende Mutter derart unerquicklich sein konnte.
Als dann das neue Stimmchen beherzt gegen die Kirchturmuhr von St. Ambrosius antrat, wuchs auch Geoffreys Mut zum Handeln. Nach reiflichem Zögern wagte er die Rückeroberung des verlorenen Terrains. Er drehte mutig am Türknauf und stürmte das Geburtszimmer. Sein Erscheinen traf exakt mit jenem Augenblick zusammen, als Maggy von Suda ein in Tücher gewickeltes Bündel gereicht bekam.
Aus jeder Bewegung der Hebamme sprach eine selbst für japanische Verhältnisse ungewöhnliche Ehrerbietigkeit. Suda gehörte nicht zum Personal der Camdens. Sie war für Maggy fast so etwas wie eine Freundin. Immer wieder hatte sie der englischen Countess gelobt zur Stelle zu sein, wenn deren Niederkunft sie schneller überkäme, als ein Arzt von der britischen Botschaft herbeigerufen werden könne.
Die Wehen waren zwei Wochen zu früh eingetreten und das mit einer Heftigkeit, die selbst Suda überraschte. New Camden House, das Anwesen des Earl of Camden und seiner Gemahlin, befand sich von Stund an in einem Zustand höchster Konfusion. Das begann bei den Dienstmädchen, die im Souterrain schnatternd die Köpfe zusammensteckten, um untereinander haarsträubende Geschichten über Kaiserschnitte, Kopf- und Steißlagen, Früh-, Fehl- und Zangengeburten auszutauschen, und es endete, wie bereits erwähnt, beim Earl, der seine Füße nicht mehr still halten konnte.
Jetzt aber waren der Hausherr und seine soeben niedergekommene Gemahlin ganz ruhig. Beide blickten auf das Kind in Sudas ausgestreckten Armen. Der Kleine strampelte sich aus den Tüchern frei und protestierte dabei immer noch, als wolle er seine Eltern wegen irgendeines Mangels umtauschen, bevor alles zu spät wäre. Aber das störte die beiden weniger. Auch die überraschende Länge des Erstgeborenen ließ sich verkraften, die ihm im Verein mit den erschreckend dünnen Gliedern ein irgendwie unfertiges Aussehen verlieh. Was sie wirklich erschreckte, waren die schneeweißen Haare ihres Sprösslings.
»Ist er krank?«, fragte Maggy mit schwacher Stimme. Sie und Geoffrey sahen besorgt in Sudas schwarze Augen.
»Nicht krank«, antwortete die Hebamme in gebrochenem Englisch. Ihr verstörter Tonfall ließ die Eltern aufhorchen.
Maggy hatte der Geburtshelferin endlich das Kind abgenommen und legte es sich auf die Brust. »Aber sein Haar! Warum ist es so… weiß?«
»Seiki no ko!«, hauchte Suda. Maggy und Geoffrey sahen sich nur ratlos an.
»Ein Kind des Jahrhunderts«, übersetzte die kleine Frau daher.
Ein Jahrhundertkind? Noch immer war den Eltern nicht klar, was Suda damit meinte. Geoffrey betrachtete das dünne Wesen in Maggys Armen und kam zu dem Schluss, es sei doch nicht so hässlich, wie er im ersten Augenblick gedacht hatte. Abgesehen von dem seltsam farblosen Haar gefiel ihm sein Erstgeborener sogar ganz gut. Mit der Contenance eines erfahrenen Diplomaten fragte er daher: »Was hat das zu bedeuten, Suda? Ich kenne mich in euren Mythen und Legenden noch immer viel zu wenig aus. Was ist ein seiki no ko?«
Die Hebamme verbeugte sich vor den Eltern, lächelte scheu und erzählte sodann eine Geschichte, die für Geoffrey und Maggy so wundersam klang, dass auch sie sich nicht länger der ehrfürchtigen Stimmung erwehren konnten, die zuvor schon Suda in ihren Bann geschlagen hatte. Seit Anbeginn der Zeit, so erzählte die kleine Japanerin leise, gebe es Legenden von ganz besonderen Menschen. Sie seien mit außergewöhnlichen Gaben gesegnet und besäßen schneeweißes Haar. Nein, keine Albinos, stellte Suda richtig, als Geoffrey eine diesbezügliche Anmerkung machte. Sie deutete auf die Augen des Kindes, die blau und nicht rot waren.
Ob dies nur eine Laune der Natur sei, wollte Maggy wissen und küsste bei ihrer Frage den Kopf des Stramplers, als müsse sie ihn schützen.
Suda lächelte wie um Nachsicht suchend. Sie wisse nicht, was man in
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