Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
er wohl oder übel etwas dagegen tun. Warum nicht durch einen außergewöhnlichen Menschen? In biblischen Zeiten hätten die Richter und Propheten doch auch vermittels übernatürlicher Taten das Recht Gottes verteidigt. Womöglich drohe der Menschheit in diesem neuen Jahrhundert ja wirklich eine große Gefahr. Wolle sie, Maggy, Gott wirklich vorschreiben, wie er das Problem aus der Welt zu schaffen habe?
Damit hatte er bei seiner Frau genau den richtigen Ton getroffen. Niemals würde sich Maggy anmaßen himmlische Planungen zu kritisieren. Und doch, etwas im Tonfall ihres Mannes hatte sie aufhorchen lassen, als er von einer möglichen Bedrohung für die Menschheit sprach.
In den ersten Wochen seines Lebens fiel David durch keinerlei außergewöhnliche Begabungen auf. Abgesehen von seinen weißen Haaren war er ein Säugling wie jeder andere: Er klagte lautstark seine Muttermilch ein, verlangte Aufmerksamkeit bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit und schlief so viel, wie es sich nur jemand erlauben konnte, dessen Hauptbeschäftigung im Wachsen lag.
Der Earl of Camden hatte Suda gebeten, in der Nachbarschaft möglichst nicht über die Haarfarbe seines Erstgeborenen zu reden. Als Diplomat hätte er wissen müssen, dass derartige Anweisungen wie kaum etwas anderes eine flächendeckende Verbreitung von Neuigkeiten förderten. Schon am 1. Januar, Davids offiziellem Geburtstag, stapelten sich aufwändig verpackte Geschenke im Salon von New Camden House. Zahllose Menschen kamen, um zu gratulieren. Gerne hätte man auch das Jahrhundertkind angesehen, ihm vielleicht sogar ins Armchen oder ins Beinchen gezwickt, um von seiner Glück bringenden Ausstrahlung zu profitieren. Aber so weit ließen es die jungen Eltern dann doch nicht kommen.
Die Camdens besaßen viele Freunde unter der einheimischen Bevölkerung. Hierzu trug vor allem Geoffreys ungezwungene Art bei auf Menschen zuzugehen. Seine Offenheit beschränkte sich dabei keineswegs auf die Aristokratie des Gastlandes oder andere Personen der gesellschaftlichen Oberschicht. Selbst Leute von einfacher Herkunft wie Suda fühlten sich in seiner Gegenwart wie unter ihresgleichen. Margret Camden stammte selbst aus einem bürgerlichen Haus und unterstützte die liberale Einstellung ihres Mannes. Andere Mitglieder der europäischamerikanischen Gemeinde von Tokyo taten sich da erheblich schwerer.
Umso größer war die Überraschung für die Camdens, als ihnen Baron Albert d’Anethan, der Doyen des diplomatischen Korps, am 2. Januar nebst Gemahlin seine Aufwartung machte – vermutlich, weil die Baroness ihn dazu gedrängt hatte. Sie war eine zwar wohlbeleibte, doch gleichwohl elegante Dame, die selbst schon über eine Schar von Enkeln verfügen musste. Es lag also durchaus etwas von Glaubwürdigkeit in ihren Worten, als sie Maggy versicherte, allein die Haarfarbe ihres Sprösslings müsse sie nicht beunruhigen, solange es sonst nichts an ihm zu beanstanden gebe.
Die in Sachen Kinder so beschlagene Baroness und ihr Gemahl jedenfalls konnten an dem Knaben keine weiteren Mängel entdecken und kürten ihn daher zum Maskottchen des Corps diplomatique. Maggy bedankte sich höflich, wobei sie ihren Abscheu gegen jeglichen Fetischzauber wohlweislich verbarg.
Diese Vorgänge, so nebensächlich sie zunächst erscheinen mögen, sollten sich nachhaltig auf Davids weiteres Leben auswirken. Zunächst hatte der Besuch des betagten Belgiers und seiner Gattin einen Dammbruch zur Folge – von nun an hagelten Glückwünsche von Vertretern aus aller Herren Länder auf den kleinen Strampler hernieder. Man hatte dem Earl of Camden seine liberalen Anwandlungen verziehen. Was allein noch zählte, war das Kind, dieser zwar kleine, aber stimmgewaltige Herold des neuen Jahrhunderts.
Nach kaum sieben Tagen mischten sich zunehmend Schaulustige unter die Besucher, woraufhin die schon wieder erstaunlich kräftige Margret eines Morgens rief: »Ist New Camden House jetzt ein Museum geworden oder vielleicht ein Zoo? Für das eine ist mein Sohn noch nicht alt genug und für das andere fehlt ihm der Pelz – er ist doch kein Affe!«
Maggy, so hübsch diese zierliche Person mit ihrem hoch aufgesteckten, brünetten Haar auch war, konnte ziemlich energisch sein. Ihr förmlicher Protest läutete eine ruhigere Zeit für die Familie ein. Die Gratulanten wurden mit englischer Höflichkeit nun gleich an der Haustür abgefertigt. Allmählich ebbte die Besucherflut ab. Zuletzt kamen fast nur noch
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