Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
und überließ die Camdens der kaiserlichen Nachricht. Schnell begaben sich Geoffrey und Maggy über die geschwungene Treppe des Entrees hinauf in den ersten Stock. Dort befand sich das Zimmer des jungen Viscount Camden. Zur Ehrenrettung des kaiserlichen Boten sei bemerkt, dass David noch kein Earl war, weil er diesen Titel erst nach dem Ableben seines Vaters erben würde. Insofern hatte der Kurier sich also exakt an das Protokoll gehalten. Der kleine Viscount befand sich beim Eintreffen seiner Eltern gerade in der Schlussphase eines größeren Bauprojekts, eines Modells des Shimbashi-Bahnhofs, das er mithilfe von Holzklötzen zu realisieren gedachte. Als er jedoch hörte, der Tenno habe ihm einen Brief geschrieben, verschob er die Einweihung des Gebäudes bis auf weiteres.
Die Mitteilung war eine wunderschöne Kalligrafiearbeit. Mit Pinsel und schwarzer Tinte hatte der kaiserliche Schreiber die für westliche Augen verwirrenden Schriftzeichen untereinander gesetzt. Der Earl und die Countess of Camden konnten sich zwar leidlich in der Sprache ihres Gastlandes verständigen, aber mit der kaiserlichen Note waren auch sie überfordert. Zum Glück verfügte New Camden House über eine Anzahl japanischer Bediensteter, und Sawasaki, Davids Kalligrafielehrer, hatte mit den höfischen Schriftzeichen keine Schwierigkeiten.
In getragenem Ton, als lese er tatsächlich eine göttliche Botschaft vor, übersetzte Sawasaki die Einladung. Darum handelte es sich nämlich, um eine Offerte, die dem »ehrenwerten seiki no ko« galt, also David. Kaiser Meiji klagte in dem Schreiben, dass ihm sein Enkel seit jenem denkwürdigen Tag, da der Herzog von Connaught in Tokyo eingefahren sei, keine Ruhe mehr lasse. Er wolle unbedingt das Jahrhundertkind wieder sehen, das ihm den goldenen Ball geschenkt habe. Nun sei dergleichen höchst ungewöhnlich, um nicht zu sagen gegen jedes höfische Protokoll. Ein Thronerbe konnte sich nicht so einfach mit anderen Kindern treffen. Schon gar nicht, wenn diese aus dem Ausland stammten. Normalerweise sei Hirohito ein sehr einsichtiges und gehorsames Kind, schrieb Kaiser Meiji – man konnte fast sein Seufzen hören –, aber dieses Mal habe er weder auf seinen Pflegevater Kinsaku Maruo noch auf den Großvater hören wollen.
So kam es, dass Meiji, der Kaiser, Camden-kun, den kleinen Viscount, in aller Form zu einem Besuch in den Palast einlud. Ob wohl der nächste Montag genehm wäre? Die Eltern, der Earl und die Countess, dürften auch mitkommen. Hirohito, der Thronerbe, würde sich im Falle einer Zusage außerordentlich freuen – und anschließend vielleicht endlich wieder seiner Ausbildung mehr Aufmerksamkeit schenken. Aus Gründen der Staatsräson sei es jedoch nötig, das Treffen im Geheimen stattfinden zu lassen. Man hält es kaum für möglich, aber der erhabene Kaiser Meiji entschuldigte sich sogar für diese an sich wenig ehrerbietige Behandlung seiner Gäste.
Vier Tage später fuhr die Kutsche der Camdens, eskortiert von vier Offizieren der Leibgarde, durch ein Nebentor von Westen her in den Park der Kaiserresidenz ein. Wenn der Tenno sein grünes Areal verließ, dann benutzte er gewöhnlich die Doppelbrücke Nijubashi, aber man wollte ja kein Aufsehen erregen.
Der Palastgarten war riesig groß. Bäume, Sträucher, Wasserflächen, kunstvoll beharkte Steingärten – ständig gab es etwas Neues zu sehen. David war hingerissen. Ab und zu quietschte er vergnügt auf, wenn zwischen den Bäumen das geschwungene Dach eines Pavillons oder eines kleinen Palastes auftauchte, und gab nicht eher Ruhe, bis die Augen der Mutter seinem ausgestreckten Fingerchen folgten. Geoffrey staunte in stiller Verzückung. Eine Audienz beim Tenno – das war die Krönung seiner diplomatischen Laufbahn.
Bald tauchte hinter den Bäumen ein gewaltiger Gebäudekomplex aus weiß lackiertem Holz und grauen Ziegeln auf. Die Kutsche kam auf einem glatten, beinahe fugenlosen Pflaster zum Stehen und ein Offizier der Leibgarde nahm die Besucher in Empfang. Die Camdens wurden in eine große Halle geführt, von dort durch einen langen Gang in einen kleineren Saal. An der Westseite des Raumes befand sich ein großes Fenster, das aus vielen quadratischen Scheiben bestand. In dieser Himmelsrichtung lag der heilige Berg Fujiyama.
David und seine Eltern harrten stehend des Gastgebers. Bald kündigte ein Diener, der beim Eingang stand, durch laute Rufe das Herannahen des Tennos an.
Kaiser Meiji kam in Begleitung von Hirohito.
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