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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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unvermittelt an und nickte. Diese Geste veranlasste die Leibwächter von dem Knaben abzulassen. Und dann geschah etwas noch Außergewöhnlicheres, wodurch bewiesen wurde, dass selbst ein Tenno-Spross noch ein wenig von jener Narrenfreiheit besaß, die für gewöhnliche japanische Kinder so selbstverständlich war: Hirohito überquerte den roten Teppich.
    Der vierjährige Offizier kam direkt auf David zugestapft, einen Schweif von Leibwächtern hinter sich herziehend. Ein winziger Degen erschwerte ihm das Vorankommen, aber davon ließ er sich nicht beirren. Der Botschafter bekam große Augen, Geoffrey und Maggy mussten sich gegenseitig stützen, die Presseleute hinter der Absperrung machten Notizen.
    Einige Sekunden lang sahen sich die beiden Jungen schweigend und mit großem Ernst an. Hirohitos besonderes Interesse galt den weißen Haaren des anderen. Ganz in die Betrachtung versunken hatte der kleine Offizier den Kopf in den Nacken gelegt (er war erheblich kleiner als der englische Knabe) und den Mund in ehrfürchtigem Staunen halb geöffnet. Davids Bewunderung galt in erster Linie Hirohitos Uniform.
    »Ihr seht aus wie ein alter Mann. Und wie ein Kind«, sagte Hirohito unvermittelt. Seine Aussprache hatte einen seltsam altertümlichen Tonfall. »Seid Ihr ein Gott?«
    David wusste, was der andere meinte. Er war es gewohnt, auf seine schneeweißen Haare angesprochen zu werden. Dennoch kam ihm Hirohitos Frage seltsam vor. »Das bin ich so sehr wie du«, antwortete er. Maggy stöhnte ob seiner Respektlosigkeit.
    Der kleine Offizier nahm den Blick von Davids Schopf und sah nachdenklich in sein Gesicht. Nach einer Weile nickte er zufrieden und hob die Hand mit dem Ball. »Ihr habt das verloren, seiki no ko. Ich bringe es Euch zurück.«
    »Willst du den Ball nicht behalten?«
    Hirohito drehte einen Moment lang den blauen Ball in seiner ausgestreckten Hand und sah ihn begehrlich an. David fühlte, dass der andere schon wollte, aber dann erwiderte Hirohito höflich: »Vielen Dank, ehrenwertes seiki no ko, aber der Ball gehört Euch.«
    David nahm die kleine Kugel entgegen und hörte Hirohito mit einem Mal schüchtern sagen: »Meister Maruo mag das nicht. Einen goldenen Ball darf ich haben, aber keinen blauen.«
    Die Antwort des Prinzen war für David völlig rätselhaft. Er hatte zu dieser Zeit ja noch keine Ahnung, dass Kinsaku Maruo der gestrenge Zuchtmeister des kleinen Hirohito war. Und das mit den Farben wollte ihm schon gar nicht einleuchten. Er empfand Mitleid für den traurigen kleinen Prinzen in seiner Paradeuniform und aus diesem Gefühl heraus tat er unbewusst etwas, zu dem nur er, nur das Jahrhundertkind, fähig war.
    Er sagte zu Hirohito: »Der Ball ist gut. Die Farbe ist gar nicht wichtig. Und wenn du willst, dann ist er ab jetzt auch nicht mehr blau. Hier, nimm deinen goldenen Ball.«
    Was den Erwachsenen wie unverständliches Kindergeschwätz vorkam, hatte der Prinz sogleich verstanden. Keiner der Anwesenden, nicht einmal David, ahnte zu dieser Zeit, dass gerade eine weitere seiner außergewöhnlichen Gaben aufgeblitzt war: Er hatte den kleinen Hirohito die Wahrheit erkennen lassen. Gerade diese zu sehen, fällt vielen Menschen so unendlich schwer, weil an sich lächerliche Vorbehalte ihren Blick verschleiern. Erziehung, Bildung, die Meinung anderer, besondere Vorlieben oder Abneigungen – es gibt viele Dinge, die das Offensichtliche vernebeln und das Wahre zuschütten, bis man es nicht mehr sieht.
    Der Wahrheitsfinder David hatte dem Wahrheitssucher Hirohito gezeigt, dass Äußerlichkeiten beim Erkennen des wahren Wesens einer Sache oft nur hinderlich sind. Und in Worten, die so einfach waren, dass sie den Älteren nur wie Rätsel erschienen, zeigte er, was Kinder den Erwachsenen voraushaben: In ihrer Vorstellung können sie den einfachsten Dingen die prächtigste Gestalt geben.
    Als David seine Arme daher wieder ausstreckte und seine schmalen Hände sich öffneten, erblickte der kleine Offizier eine goldene Kugel.
    Davids Mutter stieß einen erstickten Schrei aus. Hirohito lächelte ein weiteres Mal. Unter den anderen Umstehenden verbreitete sich ein überraschtes Gemurmel. Wie hatte der Junge das gemacht, eine blaue in eine goldene Kugel zu verwandeln?
    Selbst David konnte sich diesen Vorgang nicht erklären, aber das kümmerte ihn auch nicht. Hier, nimm deinen goldenen Ball. Mit diesen einfachen Worten hatte er dem Spielzeug eine neue Farbe gegeben. Das runde Ding war noch immer aus Kautschuk. Es hatte

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