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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Beide waren in traditionelle Kimonos gekleidet, keine Selbstverständlichkeit, denn der Kaiser hatte eine allseits bekannte Schwäche für westliche Kleidung. Diese Neigung verriet noch die Kombination aus Schnurr- und Spitzbart, die dem schmalen kleinen Monarchen eine frappierende Ähnlichkeit mit dem bayerischen »Märchenkönig« Ludwig II. verlieh.
    Der Vater des Thronerben Hirohito fehlte übrigens auf der Liste der Gäste. Es wurde gemunkelt, er leide hin und wieder unter heftigen Anfällen von Schwachsinn – vielleicht wollte man das den europäischen Besuchern ersparen. Auf die Mutter, die Kronprinzessin Sadako, wurde bei solchen Anlässen üblicherweise ebenfalls verzichtet. Dafür befanden sich unter den Bediensteten auch einige Geishas. Sie sollten mit Musik, Tanz und Gesang für die Unterhaltung der Gäste sorgen.
    Mit dem Eintreffen des Kaisers hatte für die Besucher auch das Stehen ein Ende. Gemeinsam nahm man auf dem Boden an einer niedrigen Tafel Platz. Dabei wurde immer streng darauf geachtet, dass nie das Haupt eines anderen höher war als das des Tennos. Aus diesem Grunde war selbst das zabuton, das prunkvolle Sitzkissen des Kaisers, ein wenig stärker gepolstert als das seiner Gäste.
    Als alle auf protokollgerechtem Niveau saßen, eröffnete Kaiser Meiji die Konversation. Dabei zeigte sich der Tenno erstaunlich aufgeschlossen. Das war natürlich nur möglich, weil dieser Nachmittagsempfang einen inoffiziellen Charakter hatte. Nur wenige Dutzend Diener sorgten für das leibliche Wohl des Tennos und seiner Gäste – man war also ganz unter sich.
    Kaiser Meiji verwies auf den eigentlichen Anlass des Treffens. Er habe seinem Enkel versprechen müssen den Jungen mit den weißen Haaren in den Palast einzuladen. Hirohito sei sonst immer ein Ausbund an Gehorsam. Umso mehr habe es ihn, seinen Großvater, interessiert, was das Geheimnis dieses fremden Kindes war. Gewiss, fügte Meiji hinzu, er habe den weißhaarigen Jungen im Bahnhof auch gesehen und er kenne dessen Geschenk, den goldenen Ball. Sehr nett. Aber was mache diesen englischen Knaben zu etwas derart Besonderem? Selbst Hirohitos Erzieher, Kinsaku Maruo, sei der Verzweiflung nahe, weil sein Schützling nur noch zu träumen schien.
    Davids Eltern waren erstaunt, weil der Tenno so munter drauflosplauderte. Geoffrey erzählte ein wenig über seinen Sohn. Dabei übte er sich in Bescheidenheit: Abgesehen von seinen weißen Haaren sei David ein ganz normaler Junge, etwas sensibel vielleicht, aber sonst… Obwohl, das müsse er zugeben, der Junge erstaunliche Fortschritte darin mache, die japanischen Schriftzeichen zu erlernen. In zwei oder drei Jahren werde er das kanji und hiragana wahrscheinlich ebenso gut lesen und schreiben können, wie er heute schon Japanisch spreche.
    Geoffrey erwähnte mit keinem Wort die Weissagung der Hebamme Suda. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs seiki no ko schien ohnehin immer mehr in Vergessenheit zu geraten. So wie sich die Leute in anderen Ländern auf der Suche nach Glück von Schornsteinfegern anfassen lassen, berührte man hier das Jahrhundertkind. Von den alten Legenden wusste anscheinend kaum mehr jemand etwas. Geoffrey war das nur recht – nicht nur der Abneigung seiner Frau gegen jede Art von Aberglauben wegen.
    Mit diplomatischem Geschick steuerte er die Unterhaltung bald aus den Untiefen dieses für Maggy so heiklen Themas hinaus auf das Meer der Politik. Bald entspann sich eine fast schon zwanglose Unterhaltung. Eine Teezeremonie sorgte zwischendurch für einige andächtige Augenblicke. Anschließend überraschte der Tenno seine Gäste mit dem Vortrag seiner haiku, dreizeiliger Kurzgedichte mit einem festen Silbenmaß. Es hieß, Kaiser Meiji habe tausende dieser Verse verfasst, und die Camdens fürchteten schon, der Kaiser würde sich dazu hinreißen lassen, sein Gesamtwerk zu deklamieren, aber dann endete die Darbietung auch schon wieder, so schnell wie sie begonnen hatte. Kaiser Meiji lächelte bescheiden und begann nun mit einem Loblied auf Geoffreys Heimatland. Japan habe England viel zu verdanken. Vielleicht verstünden sich die beiden Nationen so ausgezeichnet, weil sie sich so ähnelten: Das Herzland einer jeden von ihnen lag auf Inseln verstreut in einem großen Ozean.
    Wie gern hätte Kaiser Meiji dem englischen König einen Gegenbesuch abgestattet, sinnierte er und drückte sein Bedauern aus nie das eigene Land verlassen zu haben. Daran werde sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Er

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