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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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regte sich auf, wenn er hörte, dass man im britischen Unterhaus verstärkte Rüstungsanstrengungen für die Marine forderte, und applaudierte jedem Wichtigtuer – wie etwa diesem Winston Churchill –, der sich dagegen aussprach. Es versetzte ihm jedes Mal einen Schock, wenn er vom Ableben eines gekrönten Hauptes oder anderen Staatsmannes hörte, und er ließ sich nur langsam beruhigen, wenn man ihm versicherte, der Verblichene sei eines natürlichen Todes gestorben. Als dann gar König Edward VII. am 6. Mai 1910 das Zeitliche segnete, glaubte er, das angebliche Herzversagen sei in Wirklichkeit die Folge eines heimtückischen Giftanschlages gewesen. Zeit seines Lebens hielt er an dieser Theorie fest und andere, weniger mysteriöse Todesfälle bestärkten ihn in dieser Ansicht, so etwa die Ermordung des russischen Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin im September 1911.
    Im selben Monat brach in Nordafrika ein Krieg zwischen Italien und der Türkei aus, der Geoffreys Ängste weiter anheizte. Auf dem Balkan beobachtete man ein Jahr lang interessiert, wie die Italiener sich Tripolis und die Küste der Cyrenaika einverleibten, und befand das Resultat für ermutigend genug, um die Türken nun auch aus Europa zu verjagen. Das einst so riesige Osmanische Reich kränkelte seit langem, aber jetzt sprach man von Sultan Mehmet V. in seinem Serail in Konstantinopel ganz offen vom »kranken Mann am Bosporus«.
    Aus Imperialismus und Nationalismus war eine explosive Mischung entstanden, die jeden Augenblick hochgehen konnte. Das schien die Allgemeinheit wenig zu beunruhigen. Für alles gab es ja, Charles Darwin sei’s gedankt, eine ganz simple Erklärung. Der britische Naturforscher glaubte nämlich herausgefunden zu haben, dass die natürliche Auslese einzig den Tüchtigsten belohne, das Schwache würde notgedrungen untergehen. Man musste also nur stark sein, das Fremde und »Minderwertige« ausgrenzen, damit die eigene Nation sich im natürlichen Ausleseprozess behaupten konnte. Der rücksichtslose Kampf um die Vorherrschaft in der Welt war also gewissermaßen ein Gebot der Natur. Dachte man. Warum sonst ließen sich die Völker in Afrika, Asien oder Südamerika so leicht unterwerfen, wenn nicht wegen ihrer evolutionären »Minderwertigkeit«? Was Geoffrey allerdings zu denken gab, war die Gier, mit der die Großmächte, hungrigen Hyänen gleich, nun über einen der Ihren herfielen und ihn zerfleischten. Diese Lüsternheit ließ ihn das Gespenst einer globalen Völkerschlacht an die Wand malen. David jedoch erschien diese Befürchtung allzu weit hergeholt.
    Ungefähr zu dieser Zeit betrat er nämlich eine weitere Entwicklungsstufe auf jener Treppe, die sein Vater als »Mannwerdung« bezeichnete. Geoffreys seltsames Benehmen wurde für den Sohn allmählich eine Alltäglichkeit. Zwar hatte David seinen Entschluss, dem Vater in jeder Gefahr beizustehen, nicht aufgegeben, doch er ließ sich von dem Schrecken der Attentats- und Kriegsmeldungen nicht in dem Maße anstecken wie noch zwei oder drei Jahre zuvor. Als etwa am 21. August 1911 die seriöse Londoner Nachrichtenagentur Reuter den Ausbruch eines Krieges zwischen Frankreich und Deutschland meldete und wenige Stunden später widerrief, war Geoffrey wie aus dem Wasser gezogen. David meinte nur lachend, solche Schluderei solle er sich mal in der Schule erlauben. Die Lehrer würden ihm den Hintern versohlen.
    Da gab es andere Ereignisse, die David viel mehr beunruhigten. So das Auftauchen des Halleyschen Kometen im Monat von König Edwards Hinscheiden. Für viele war der Weltuntergang in diesen Tagen eine beschlossene Sache. Als daher Wien am 11. Mai von einem kleineren Erdbeben erschüttert wurde, flohen die Menschen, wie die Zeitungen meldeten, in Panik aus der Stadt. Sie wollten wohl gerne auf dem Lande sterben. Aber der Komet nahm keine Notiz von ihnen und zog unverrichteter Dinge an der Erde vorbei.
    Dieses Ereignis war auch deshalb von einiger Bedeutung für David, weil er tags zuvor wieder einmal (natürlich ganz zufällig) ein Gespräch zwischen seinen Eltern belauscht hatte. Der Vater erwähnte seine Absicht Japan zu verlassen. Gewisse Möglichkeiten für einen angemessenen Botschaftsposten in der Hauptstadt von Österreich-Ungarn, also in Wien, zeichneten sich ab. Was sie, Maggy, von einem Umzug dorthin halten würde. Davids Mutter war begeistert. Sie ermutigte ihren Gemahl die Fühler in dieses fast schon heimatliche Christenland auszustrecken.
    Lauschen war nicht nur

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