Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
dass es etwa gegen halb elf gewesen sein muss.«
David nickte. Der Traum! Er zwang ein Würgen nieder. »Denken Sie, wir können unsere Unterhaltung ein andermal fortsetzen, Lieutenant?«
»Natürlich, Sir. Wäre Ihnen heute Mittag recht?«
»Je später, desto besser.«
»Uns ist sehr an einer baldigen Fortsetzung des Gesprächs gelegen.«
David horchte auf. »Wieso?«
»Scotland Yard hat sich in die Ermittlungen eingeschaltet, weil es da noch ein anderes Detail gibt, das uns… nun, sagen wir, eigenartig vorkommt.«
»Jetzt spannen Sie mich doch nicht auf die Folter, Lieutenant. Was finden Sie eigenartig?« So elend sich David auch fühlte, er wollte endlich die ganze Wahrheit hören.
Die Polizeibeamten tauschten einmal mehr viel sagende Blicke, bevor Lieutenant Barepitch nach einem Räuspern antwortete: »Na gut, aber es ist nicht gerade angenehm, was ich Ihnen da erzählen muss. Alle bei der Limousine gefundenen Leichname wiesen eine Gemeinsamkeit auf, die bei Opfern eines Verkehrsunfalls ziemlich ungewöhnlich ist: Sie lagen da wie hingestreckt, als hätte sie im Augenblick des Todes noch ein Keulenschlag im Kreuz getroffen und ihre Körper sich aufrichten lassen. Ich habe so etwas noch nie gesehen: ein Rückgrat, das im Tode derart weit zurückgebogen war.«
David brach zusammen, nachdem sich die Polizisten verabschiedet hatten. Kopfschüttelnd war er, die besorgten Blicke des Dienstpersonals hinter sich herziehend, die Treppe hinaufgelaufen und hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Dort ließ er seinen Tränen freien Lauf. Mit einem Mal stürzte alles über ihn herein. Sein seelisches Gleichgewicht brach unter tausend Wenns zusammen: Wenn sie nur die Ängste seines Vaters ernster genommen hätten; wenn er nach dem Attentat in Tokyo besser auf ihn aufgepasst hätte; wenn er sich nicht mit hinhaltenden Erklärungen hätte abspeisen lassen, anstatt vom Vater die Wahrheit zu verlangen; wenn er gestern mit seinen Schwertern im Wagen gesessen hätte, um ihn – wie er es einmal großspurig gelobt hatte – zu beschützen; wenn er in letzter Zeit nur nicht solchen Groll gegen ihn gehegt hätte und – David schrie in seiner Verzweiflung auf – wenn er ihn gestern wenigstens noch ein einziges, letztes Mal umarmt hätte…!
Vater war einfach gegangen und er, David, hatte ihn ziehen lassen wie einen Schlafwandler, den man ja nicht wecken darf. Mutter hatte er noch seine Vorwürfe aufgeladen. Er werde es sich überlegen, ob er Vater eine Chance geben könne. Wie gehässig! Wie unvorstellbar überheblich! Jetzt hatten die Eltern seine sture Zurückweisung mit ins Grab genommen, waren vielleicht mit dem Gedanken gestorben, dass ihr Sohn sie nicht mehr liebte…
Von neuem schrie David in seiner Verzweiflung auf. Im Flur – bei Balu und allen anderen, die mittlerweile dort lauschten – war sein Schluchzen und Jammern nur gedämpft zu hören, weil er sein Gesicht im Kopfkissen vergraben hatte. Wenn er doch nur darin ersticken könnte! So wie Großonkel Francis im eiskalten Wasser der Themse.
David hatte doch nur um Hilfe rufen wollen, weil er sich vom Vater missachtet fühlte. Aber er liebte sie doch! Alle drei, ja, und auch Sam, diese treue alte Seele. Warum konnte er ihnen nicht wenigstens das noch sagen? WARUM…?
Zusammenbruch
Irgendwann war die Explosion des Schmerzes abgeklungen. Zurück blieb ein Trümmerfeld, Gefühle, die nicht mehr zusammenpassten, Gedanken, die keinen Sinn mehr ergaben. Ein leises Klopfen an der Tür drang erst nach und nach zu David durch. Er hob den Kopf aus dem feuchten Kissen und lauschte.
Wieder klopfte es.
»Was ist?«, rief er müde.
Balus Stimme drang gedämpft durch die Tür. »Sir Rifkind ist hier, Sahib.«
David atmete tief durch und wischte sich die Tränen aus den Augen. Auch für ihn war Sir William in den letzten beiden Jahren zu einem wertvollen Freund geworden. Ohne den Anwalt hätte Maggy Geoffreys anhaltende Phasen geistiger Umnachtung kaum bewältigen können. David konnte ihn nicht einfach draußen stehen lassen.
Schwerfällig erhob er sich aus dem Bett und schlurfte zur Tür. Langsam drehte er zuerst den Schlüssel, dann auch den Knauf herum. In dem breiter werdenden Türspalt tauchte die bekannte Gestalt auf.
Sir William Horace Rifkind war ein bemerkenswerter Mann. Das hing weniger mit Äußerlichkeiten zusammen. Sein runder Kopf wurde in direkter Verlängerung zur Stirn von einem breiten kahlen Streifen überzogen, der einer
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