Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
in der Hand eine staubige Kaminschaufel. Einen Moment lang verharrten alle Akteure reglos wie die Wachsfiguren von Madame Tussaud in der Halle. Dann endlich presste David leise die alles entscheidende Frage heraus.
»Sie meinen… sie sind alle… tot?«
Lieutenant Barepitch räusperte sich abermals. »Endgültig können wir es natürlich erst nach der Identifizierung der sterblichen Hüllen sagen, aber unsere bisherigen Untersuchungen – und ich darf anmerken, wir haben uns die ganze Nacht hindurch um eine schnelle Aufklärung bemüht – also, um es kurz zu machen: Ihre Eltern, der Earl und die Countess, ebenso wie der Admiral und der Fahrer sind bei dem Unglück umgekommen.«
David schüttelte den Kopf Was er da hörte, war zu schrecklich, um es einfach so hinzunehmen. Sein Verstand weigerte sich, das zu akzeptieren, wovon die beiden Beamten offenbar schon überzeugt waren. Erst als Lieutenant Barepitch ihm die Hand reichte, erholte er sich kurzzeitig von seinem Schock.
»Ich möchte Ihnen meine tief empfundene Anteilnahme ausdrücken, Viscount.« Sergeant Abrahams schloss sich der Kondolation seines Kollegen an.
David nickte. Er verstand die ganze Situation nicht. Irgendwie erschien sie ihm falsch. Die Beamten wechselten schon wieder befangene Blicke – sie hätten sich jetzt wohl gerne empfohlen –, als er endlich mit brüchiger Stimme fragte: »Seit wann kümmert sich Scotland Yard um Verkehrsunfälle?«
Zum ersten Mal antwortete nun Sergeant Abrahams. »Es gibt Zeugen für das Unglück. Oder zumindest für die Zeit kurz danach. Wie Sie ohne Frage wissen, Sir, hatten Ihre Eltern einen Empfang auf Windsor Castle besucht. Etwa um zehn verließen mehrere Gruppen in kurzer Folge das Schloss, auch Ihre Familie. Die Limousine des Earls, Ihres Vaters, wurde wenig später an der Straße nach London gefunden. Sie war an einen Baum geprallt und hatte Feuer gefangen. Alle Insassen lagen aber seltsamerweise im Freien, das heißt, nicht alle lagen dort…«
David hatte den Bericht des Polizisten wie in Trance verfolgt, doch jetzt merkte er auf. »Was wollen Sie damit sagen, Sergeant?«
»Uns liegen mehrere Aussagen von Zeugen vor, die in der Nähe des Wagens zwei Personen gesehen haben wollen…«
»Moment, Moment«, fuhr David dazwischen. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Wen haben Sie denn nun beim Automobil gefunden?«
»Ihren Vater, Ihre Mutter und den Chauffeur – tut mir Leid, Sir.«
David schluckte. Sein Hals war wie zugeschnürt. »Aber… aber dann bleibt doch nur noch mein Großonkel.«
»Der Admiral wurde ganz in der Nähe gefunden. Er lag – verzeihen Sie meine Offenheit – mit dem Gesicht nach unten im Wasser der Themse.«
David warf den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er kämpfte dagegen an, einfach ungehemmt loszuweinen. Was für eine Ironie! Der alte Seebär hatte also doch noch, wie von ihm immer ersehnt, ein feuchtes Ende gefunden. Leider konnte sich David im Augenblick nicht für Großonkel Francis freuen. Ihm wurde speiübel. Es gelang ihm nur mit Mühe, seinen rebellierenden Magen in Schach zu halten. Seine Augen schienen ihm fast aus den Höhlen zu quellen, als er den Sergeanten wieder ansah und verwirrt hervorstieß: »Das sind doch schon alle! Meine Eltern, mein Großonkel und Sam, der den Wagen fuhr. Wen wollen die Zeugen denn noch gesehen haben?«
Abrahams fühlte sich erkennbar unwohl in seiner Haut. »Gerade das möchten wir ja herausfinden, Viscount. Die Zeugen berichten übereinstimmend eine große Gestalt gesehen zu haben, die einen Hut mit breiter Krempe und einen weiten Umhang trug. Leider war es viel zu dunkel, um weitere Einzelheiten zu erkennen. Die Zeugen haben nicht viel mehr als einen dunklen Schemen ausmachen können.«
David fuhr sich mit der Hand an die Stirn. Er taumelte für einen Moment. Diese letzte Neuigkeit hatte ihn wie ein Faustschlag getroffen und ihn beinahe umgeworfen, wenn nicht Balu rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre, um ihn zu stützen. Aus den Klüften seines Gedächtnisses kroch ein unheilvoller Nebel herauf, dunkle Erinnerungen an ein Attentat, das er längst verdrängt zu haben glaubte, an eine unheimliche Begegnung, die eigentlich gar keine war… Was hatten die Polizisten da gesagt? Ein Schemen war am Ort des Unglücks gesehen worden. Etwa so einer wie…?
»Wann, meinten Sie, hat der Unfall stattgefunden?«
»Das haben wir bisher noch nicht gesagt«, antwortete Lieutenant Barepitch behutsam, »Die Zeugen gaben zu Protokoll,
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