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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Feuerschneise glich, an deren Rändern hüben wie drüben nur einige zerzauste aschgraue Haarbüschel stehen geblieben waren. Die Vegetation in der verworfenen Landschaft seines Gesichts wurde von einem spitzen Bart am Kinn und einem horizontalen auf der Oberlippe vervollständigt. Der Anwalt maß gerade einmal fünfeinhalb Fuß, war also kleiner als David. Im stetigen Kampf gegen seine natürlichen Benachteiligungen trug Sir William fast immer einen Chapeau claque. Der machte ihn nicht nur größer, sondern verdeckte auch die unbewachsenen Regionen auf seinem Kopf Wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, klappte er den Zylinder einfach zusammen und klemmte ihn sich unter den Arm. So sah er dann aus wie ein Ober mit einem leeren Serviertablett.
    Abgesehen von diesen Nebensächlichkeiten zeichnete sich William H. Rifkind vor allem durch seine Wesensart aus. Ob Aristokrat oder »Schlotbaron«, ob Dienstmann oder Magd – er behandelte alle mit einer väterlichen Güte und Freundlichkeit, der man sich schwer entziehen konnte. Seine zurückhaltende Autorität war von jener Art, die man eher als Schutz denn als Einengung empfindet. Nur wer meinte, sich ihm gegenüber aufspielen zu müssen – und von diesen Ahnungslosen gab es unter seinen betuchten Klienten immer wieder einmal jemanden –, der lernte schnell die andere Seite des einflussreichen Anwalts und Notars kennen. William H. Rifkind war auch gefürchtet. Sich mit ihm anzulegen, galt als Dummheit sondergleichen. Er ließ sich nichts gefallen. Und wenn es sein musste, machte er auch seinen Einfluss geltend, um einen bornierten Holzkopf in die Schranken zu weisen.
    Im Augenblick war Sir William ganz der mitfühlende Onkel. Er breitete die Arme aus, legte den Kopf schräg und sagte mit tröstendem Lächeln: »Komm her, David, lass mich dir meine Anteilnahme ausdrücken. Es tut mir so unendlich Leid, was mit deiner Familie geschehen ist.«
    Dankbar ließ David sich an den gut gepolsterten Leib des Freundes sinken und genoss den gefühlvollen Druck seiner Arme. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte er.
    »Leider müssen wir uns der schmerzlichen Wahrheit stellen, David. Arthur, euer Butler, hatte mich von dem Besuch der Scotland-Yard-Beamten in Kenntnis gesetzt. Daraufhin habe ich dort angerufen und mich dem Yard zur Verfügung gestellt. Lieutenant Barepitch fragte mich, ob ich die sterblichen Hüllen der Unfallopfer identifizieren würde, und ich habe zugestimmt. Jetzt komme ich gerade aus der Prosektur des St.-Mary-Abbot-Hospitals.«
    »Sie brauchen nichts zu sagen«, hauchte David mit rauer Stimme. »Ich weiß, dass sie alle tot sind. Länger schon, als gut für mich ist.«
    Sir William verstand diese Bemerkung nicht wirklich, aber er ahnte, was David in den letzten Stunden durchgemacht haben musste. Der Junge redete einfach wirr. Kein Wunder, in seiner Situation. Um ihm zu helfen, fragte er: »Was hältst du davon, wenn du ein paar Tage zu mir ziehst? Nur so lange, bis es dir wieder besser geht.«
    David zögerte. Das lag nicht am Angebot. Er war im Augenblick einfach unfähig irgendetwas zu entscheiden.
    »Wir müssen sowieso demnächst einiges miteinander bereden«, sagte der Anwalt und als David noch immer nicht reagierte, fügte er, so als gäbe es in Camden Hall überhaupt keine Dienerschar, warmherzig lächelnd hinzu: »Ich glaube, es würde dir gut tun, jetzt nicht ganz allein in diesem großen Haus zu sein. Weißt du was? Du lässt dir jetzt ein paar Sachen einpacken und dann kommst du gleich mit mir mit.«
    Das klang wie ein sanfter Befehl. David brauchte nur zu gehorchen. Benommen nickte er.
     
     
    Hektisch fegte David durch das Haus. Sein Blick war fiebrig. Nicht weil seine Erkältung ihm noch in den Gliedern steckte, sondern weil er nicht fand, was er suchte. Als er Balu über seine Nöte in Kenntnis setzte, alarmierte der sogleich die ganze Dienerschaft. Der Leibwächter schickte Suchtrupps aus, führte Befragungen durch und inszenierte Nachstellungen kürzlich beobachteter Handlungsabläufe. Die Dienerschar von Camden Hall kehrte etwa eine Stunde lang systematisch das Unterste zuoberst, dann stieß Elsa durch Zufall auf den im Salon wartenden Familienanwalt.
    »Sagen Sie, Elsa«, wandte sich William H. Rifkind mit der ihm eigenen Bedächtigkeit an das wie eine Biene umherschwirrende Dienstmädchen, »was ist eigentlich der Grund für dieses emsige Treiben im Haus?«
    »Der Viscount sucht eine Schatulle«, antwortete Elsa, ohne sich in ihrem

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