Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Windsors Toren, mehr noch als für Scotland Yard, nicht bloß eine Merkwürdigkeit, die man hinterfragen musste. Seine Eltern waren eines gewaltsamen Todes gestorben, das stand für ihn fest. Nachdem er am Morgen die Hiobsbotschaft erhalten hatte, konnte er stundenlang vor Schmerz kaum einen klaren Gedanken fassen. Jetzt fügte sich in seinem Sinn alles zusammen: Der Traum von dem Schemen und die von Angst getriebene Unruhe nach dem Erwachen – das alles musste mit jener besonders tiefen Empfindsamkeit zusammenhängen, die ihn von anderen Menschen unterschied und die ihn schon wissen ließ, was andere nur ahnten.
Daraus ergaben sich neue unangenehme Fragen. Hatte der anonyme Beobachter aus der Abtei auch ihm, David, etwas antun wollen? Er musste es zumindest annehmen, denn wenn ihn seine Erkältung nicht ans Bett gefesselt hätte, dann läge er jetzt wohl auch auf dem Seziertisch von St. Mary Abbot.
Der Gedanke, dass man seine Eltern aufschneiden würde, um hinter das Rätsel ihrer im Tod so merkwürdig verkrampften Körper zu kommen, bereitete ihm Übelkeit. Sir William hatte ihn gefragt, ob er seine Eltern noch einmal sehen wolle, was von David nur mit einem ratlosen Blick beantwortet worden war. Irgendwie fühlte er sich schuldig und scheute die Nähe der Hingeschiedenen, als könnten sie ihn noch über den Tod hinaus mit strafenden Blicken peinigen. Andererseits wollte er noch einmal von ihnen Abschied nehmen. Man einigte sich schließlich darauf, die Entscheidung auf später zu vertagen. Dem Scotland Yard machte der Anwalt in einem Telefonat klar, dass der Viscount of Camden momentan noch nicht ansprechbar sei.
So war David nun allein mit der Schatulle auf dem Bett, dem Schlüssel in der Hand und den Fragen in seinem Kopf.
Eine Antwort würde er wohl nur finden, wenn er den Grund für Vaters Ängste kennen lernte. Er war fast sicher, sie in dem Diarium zu finden.
Langsam drehte sich David vom Anblick der jagenden Katze weg und näherte sich dem Bett. Zögernd blickte er auf das Holzkästchen hinab. Die Intarsien zeigten einen Baum in den Stadien der vier Jahreszeiten. Davids Finger schlossen sich fester um den goldenen Schlüssel. Einen Moment lang verharrten sie so vor seinen Augen. Du kannst noch nicht tragen, was ich in diese Schatulle eingeschlossen habe. Die Worte seines Vaters hatten fast wie ein Fluch geklungen. Doch inzwischen waren anderthalb Jahre vergangen. David war stärker geworden, auch wenn er im Moment nicht viel davon spürte. Jedenfalls konnte er nicht die Augen vor dem Vermächtnis seines Vaters verschließen.
Wie einen überaus zerbrechlichen Gegenstand trug David das Kästchen in sein Wohnzimmer und ließ sich in einem ledernen Ohrensessel nieder, neben dem ein kleiner runder Tisch mit einer Leselampe stand. Die Schatulle vor sich auf dem Schoß, drehte er das Schlüsselchen im Schloss herum, bis er ein leises Klicken vernahm. Mit angehaltenem Atem ließ er langsam den Deckel hochklappen. Überrascht betrachtete er den Inhalt des Kästchens. Neben dem bekannten Diarium und der vermuteten Testamentsabschrift befand sich darin noch etwas anderes: ein schwerer goldener Siegelring mit einem kleinen Rubin.
Die Geschichte war unglaublich! Auf eine schreckliche Art und Weise packte sie David und ließ ihn nicht mehr los. Nur mit Mühe konnte er sich gegen drei Uhr nachmittags von dem Diarium lösen, als ein Arzt auftauchte, den Sir William herbeizitiert hatte. Unter Zuhilfenahme eines Stethoskops sowie eines dickglasigen Monokels verschaffte sich der Mediziner ein Bild von Davids geistigem und körperlichem Gesamtzustand, verschrieb ein leichtes Schlafmittel und überließ ihn wieder seiner Lektüre. Etwa zwei Stunden später kreuzte Lieutenant Barepitch in Begleitung seines Kollegen Abrahams auf und piesackte den Alleinerben des Camden-Vermögens mit einer Reihe von Fragen, die nicht alle taktvoll waren. Kurz nach sechs warf Sir William die Polizisten hinaus.
Für das Dinner ließ sich David entschuldigen. Er konnte unmöglich noch einmal von Vaters Aufzeichnungen lassen.
Alle Anspielungen, Gerüchte und Vermutungen seines sechzehnjährigen Lebens bekamen durch das handgeschriebene Buch mit einem Mal einen Sinn. Der für das einfache Volk immer so aufgeschlossene Earl war selbst einmal ein Straßenjunge gewesen. Jeff Fenton, geboren als Sohn eines Silberschmieds, später eine heimatlose Waise, hatte im Jahre 1882 Kenntnis von einem teuflischen Plan erlangt. Der Kreis der
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