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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Vater im Jahre 1897 als Handelsattache nach Tokyo gegangen war, mochte er noch gedacht haben auf der politischen Bühne der Welt etwas bewegen zu können. Insgeheim hatte er auch gehofft, diesen Lieblings jünger Belials, Teruzo Toyama, aufzuspüren und unschädlich zu machen. Aber das war wohl der größte Trugschluss von allen gewesen. Nicht Toyama wurde gejagt, sondern Davids Vater. Während sich der japanische Logenbruder des Geheimzirkels als Kopf der Schwarzen Drachen bester Gesundheit erfreute, löschte er die Camdens an jenem 3. Januar des Jahres 1913 fast aus. Damals war ihm das misslungen, weil David den dunklen Meuchler besiegte, den – erst jetzt wurde ihm das klar – sein Vater für Negromanus gehalten hatte. Doch Davids Heldentat war nicht mehr als ein Aufschub gewesen. Der Kreis der Dämmerung besaß viel Geduld.
    Mit Grauen las David von der Begegnung seines Vaters mit dem Schemen in der Westminster Abbey – wie sehr sich doch die Ereignisse glichen! Jetzt erst verstand er, was Geoffreys Depressionen ausgelöst hatte. In der Überzeugung, von Belial oder Negromanus aufgespürt worden zu sein, hatte er von diesem Tage an das erwartet, was in der zurückliegenden Nacht eingetroffen war. Das heißt, nicht ganz. David lebte noch.
    Und an diesem Punkt begann der schwerste Teil des niederschmetternden Vermächtnisses: David war ein seiki no ko, ein Jahrhundertkind. Nein, nicht bloß ein Maskottchen, ein Symbol der Hoffnungen einer neuen Ära. Die Hebamme Suda hatte ihn als einen Menschen mit besonderen Gaben bezeichnet, und – wie könnte er das bestreiten? – die hatte er wirklich. Längst war er sich seiner Andersartigkeit bewusst, die weit über das weiße Haar hinausging. Fast täglich bediente er sich – völlig unspektakulär, für andere kaum erkennbar – dieser Fähigkeiten. Er tat es, wie gewöhnliche Menschen ihre Augen oder Ohren benutzten. Aber wenn dieser Teil der Prophezeiung stimmte, war dann nicht auch der andere wahr?
    David zerbrach fast unter dieser Einsicht. Obwohl Vater immer nur halbherzig an die Bestimmung seines Sohnes geglaubt hatte, wollte er ihm diese doch nicht vor seiner Volljährigkeit verraten, empfahl einmal sogar, die Schatulle besser »in die Themse zu werfen«, als das in ihr Eingeschlossene ans Licht zu lassen. Jetzt spürte David weshalb. Die Bürde seiner Aufgabe drohte ihn beinahe zu ersticken. Er wollte schreien, unterdrückte diesen unbändigen Drang aber, weil er das Auftauchen von Sir William oder irgendeines Dieners befürchtete. Was hätten sie ihm schon sagen, was ihm raten sollen? Bleib sitzen und genieße dein Leben?
    Dieses Leben erschien David mit einem Mal so sinnlos wie Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlenflügel. Der Kreis der Dämmerung verfolgte einen tödlichen Jahrhundertplan – und er, David, sollte diesen durchkreuzen? Er schüttelte ungläubig den Kopf. Wie sollte er das anstellen? Etwa indem er Feldmarschällen rote Nasen verpasste oder die Uhren von Kriegsministern stehen ließ, wenn diese wieder mal ein Ultimatum verhängten? Das war doch lachhaft, seine Fähigkeiten viel zu unbedeutend, um damit gegen einen Bund anzutreten, dessen Fäden die mächtigsten Männer des Erdballs zu Marionetten machten.
    Das Bewusstsein der eigenen Hilflosigkeit hatte seinen Vater langsam zugrunde gerichtet. Jetzt begann es an Davids Seele zu nagen. Und doch gab es etwas, das noch schlimmer für ihn war, ihn fast um den Verstand brachte: das fest gefügte Maß seines Lebens.
    Zugegeben, einhundert Jahre waren viel. Aber von dem Augenblick an, als er die Worte der Hebamme Suda gelesen hatte, sah er im Geiste einen Maßstab vor sich, einen endlichen Zollstock, auf dem die genaue Zahl seiner Lebensjahre markiert war. Diese Überschaubarkeit seines Erdendaseins brachte ihn beinahe um. Seine Lebensspanne erschien ihm nur mehr wie ein Konto zu sein, von dem man ausschließlich abheben, aber auf das man nichts einzahlen konnte. Wenn der letzte Penny ausgezahlt war, würde er sterben.
    Ist das nicht bei jedem Menschen so?, versuchte er sich zu beruhigen. Wozu hatte er denn die Bibel gelesen? »Und wer von euch kann dadurch, dass er sich sorgt, dem Maß seines Lebens eine einzige Elle hinzufügen?«, hatte Jesus gefragt. Na also! Aber dann fiel David wieder ein, was er über einige unheilbar Kranke gelesen hatte, die Hand an sich selbst legten, weil die vom Arzt zugemessene Lebensspanne ihnen jede Hoffnung nahm.
    Er schüttelte mit bebenden Lippen den Kopf.

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