Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Dämmerung hatte auf The Weald House beschlossen die Menschheit in ihren Untergang zu treiben, der – angeblich – ohnehin früher oder später kommen musste. Jeff war vor Lord Belial und seinem unheimlichen Schatten Negromanus geflohen, in der Tasche einen geheimnisvollen Siegelring.
Nachdenklich blickte David auf das Schmuckstück, dessen roter Stein im Licht der Leselampe lebhaft glitzerte. Das beherrschende Element des Siegels war eine große runde Scheibe, deren untere Hälfte von stetig breiter werdenden horizontalen Linien unterbrochen war. Mit etwas Phantasie konnte man sich eine im Meer versinkende Sonnenscheibe vorstellen, die sich auf den Wellen spiegelte. Unter dem Außenrand dieser runden Fläche ragten zwölf kleine Halbkreise hervor, angeordnet wie die Stundeneinteilungen eines Zifferblattes. Über der Zwölfuhrposition thronte der Rubin wie ein Unheil verkündendes Auge.
Dieses Gefühl jedenfalls beschlich David, nachdem er den Bericht aus Vaters Jugendtagen kannte. Ohne Frage war der Rubin – nur einen der ursprünglich zwölf Ringe hatte ein solcher geschmückt – ein Sinnbild für Lord Belial, den Großmeister des Zwölferzirkels. Dieser und sein unheimlich selbstständiger Schatten Negromanus mussten Jeff hassen, für das, was er ihnen angetan hatte. Deshalb war Vater immer so in Rage geraten, wenn ihn jemand »Jeff« oder »Geoff« genannt hatte! Zu verräterisch musste ihm das vorgekommen sein, während er in ständiger Angst lebte von dem Schattenlord oder seiner rechten Hand gefunden zu werden.
Doch Jeff Fentons Verwandlung in Geoffrey Pratt, Viscount of Camden, war fast so radikal wie die Metamorphose einer unscheinbaren Raupe in einen wunderschönen Schmetterling – der eine schien mit dem anderen nichts gemein zu haben. Von London aus zog er nun Erkundigungen über das Feuer im Wald vor Tunbridge Wells ein. Nach seiner Flucht mussten sich grauenvolle Dinge abgespielt haben. Anfangs glaubte man noch an das sprichwörtliche Glück im Unglück: Das Dienstpersonal hatte sich weitgehend aus den Flammen retten können, nur einige wenige Menschen waren im Haus verbrannt. Zu ihnen gehörte auch Lord Belial, wie man meinte. Dann aber häuften sich Nachrichten von mysteriösen Todesfällen. Eines der Opfer war die Magd Dorothy, welche Davids Vater aus irgendeinem Grunde besonders erwähnte. Jeder, der zum Dienstpersonal von Lord Belial gehört hatte, verlor innerhalb von sechs Wochen sein Leben. Angeblich waren es Krankheiten, Unfälle, einmal sogar ein Bruderzwist, welche die Unglücklichen aus dem Leben rissen – wenn da nicht eine seltsame Gemeinsamkeit gewesen wäre: Das Rückgrat aller Toten war auf abnorme Weise nach hinten verbogen.
Nur langsam hatte sich bei Davids Vater die Zuversicht entwickelt als neue Person auch ein völlig neues Leben führen zu können. Immerhin hielt er vierunddreißig Jahre lang durch. Er wurde von Großvater Archibald, dem kinderlosen alten Earl, adoptiert, weil dieser in den aufgeweckten Jungen vernarrt war, der eines Tages in Lumpen vor seinem Stadtpalast aufgetaucht war und selbstbewusst um Arbeit gebeten hatte. So entstand die Geschichte von der männlichen Cinderella Geoffrey Camden, einem überaus begabten jungen Aristokraten, der wie aus dem Nichts auftauchte, sein Studium in Oxford mit summa cum lande beendete und bald darauf eine viel versprechende Karriere als Diplomat anfing.
Doch dann musste Geoffrey mit ansehen, wie sich der Jahrhundertplan des Kreises der Dämmerung auszuwirken begann. Gerade noch hatten die Menschen, getragen von der Woge eines beispiellosen technischen Fortschritts, von Utopia geträumt, einer neuen Welt, frei von Sorge und Not. Völker begannen einander wie Freunde zu behandeln. Für Reisen von einem Land ins andere war nicht einmal ein Visum nötig. Aber dann fing man plötzlich an Unterschiede zu bemerken, vor denen man glaubte sich unbedingt schützen zu müssen. Außerdem meinten nicht wenige, das eigene Volk verfüge über eine naturgegebene Herrenqualität, der man Recht verschaffen musste, notfalls mit Gewalt. Mit einem Mal brachten Attentate die fest gefügte Ordnung jahrhundertealter Dynastien ins Wanken. Zur gleichen Zeit platzten die Städte aus ihren Nähten und wurden zu Brutstätten von Kriminalität und Sittenverfall. Und dann die Kriege! Wie sehr hatte Vater darunter gelitten, dass sich die Menschen mit solchem Enthusiasmus an die Kehle gegangen waren. Jetzt erst verstand David seine Hilflosigkeit.
Als
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