Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Freispruch dabei herausgekommen. Aber so…«
»Was heißt hier versteckt?«, zischte Rebekka. Einige der Umstehenden drehten sich bereits nach ihr um. Leiser fuhr sie fort: »Die Bilder sind Erinnerungsstücke aus dem Nachlass ihres Mannes. Ohne sie wird Mia zu Grunde gehen!«
Dr. Singvogel hob in einer hilflosen Geste die Arme. »Das ist wohl eher ein Fall für einen Seelenarzt. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden – ich habe noch einen Termin.«
Das Paar blickte dem wehenden Talar des Anwalts sprachlos hinterher.
Rebekka zog ein Schnupftuch aus ihrer schwarzen Handtasche und tupfte sich die ersten Vorboten einer Tränenflut ab. »Wenn es stimmt, was Dr. Singvogel gesagt hat, und sie stecken Mia wirklich in dieses Frauengefängnis Gotteszell in Süddeutschland, kann ich sie nicht einmal besuchen.«
David nahm sie in den Arm. »Vielleicht kommt sie ja wegen guter Führung früher wieder heraus.«
»Ich habe Angst um sie, David. Mia hat mir einmal erzählt, dass ihr Herz verbluten würde, wenn man ihr Edgars Bilder wegnähme.«
Mit zitternden Fingern strich David über Rebekkas schwarzes Haar. »Ich weiß, Bekka, aber was soll ich denn tun?«
Franz von Papen schien endlich auf die »Einflüsterungen« seines Redenschreibers anzusprechen. Erst konnte David kaum glauben, was ihm Edgar Jung da Anfang 1934 berichtete. Die Art und Weise, wie Hitler alles an sich reiße, gefalle Papen überhaupt nicht. Doch der Publizist gab sich keinen Illusionen hin. Papen werde dabei wohl eher an die eigene als an die Freiheit des deutschen Volkes gedacht haben. Gerade Letztere schwinde ja wie das Tageslicht in der Abenddämmerung.
Edgars bittere Worte sollten dann bereits Ende März ihre grausame Bestätigung finden, als ein weiterer Schicksalsschlag die wenigen Aufrechten im Haus am Richardplatz erschütterte. Der Schwarzmantel tauchte wieder auf. (Inzwischen hatte David auf verschlungenen Wegen erfahren, dass der Mann bei der Gestapo, Hitlers Geheimer Staatspolizei, arbeitete.)
Eines Morgens kam er in Begleitung von sechs uniformierten SS-Männern ins Haus stolziert, verlas Wolfgang und Anneliese Hermann eine behördliche Anordnung, nach der deren Tochter Elisabeth in die Obhut einer »guten deutschen Familie« überstellt werde, weil durch den Einfluss der leiblichen Eltern eine »Gefährdung des Kindeswohls« anzunehmen sei. Alles sei rechtens. Im Paragraph 1666 BGB ganz klar geregelt. Der Rechtshüter schnappte sich Lieschen und verschleppte sie, ohne dass die Eltern etwas dagegen tun konnten.
David und Rebekka erfuhren von dem Vorfall, als sie vom Einkaufen zurückkamen. Die Hermanns weinten sich bei den Blumenthals aus, was selbst den Pratts im Hausflur nicht entging. Letztere klingelten und wurden hinzugezogen. Auch Opa Heinrich und Onkel Carl waren anwesend.
»Vielleicht hätte euer Richter den Adolf doch nicht so reizen sollen«, merkte Onkel Carl an. Seinem Vorwurf fehlte allerdings die gewohnte Überzeugung. Mit dem Richter meinte er »Judge« Rutherford, den Präsidenten der Watch Tower Society, der Hitler im Februar ein Ultimatum gestellt hatte: entweder freie Religionsausübung für die Gläubigen oder Aufdeckung aller nationalsozialistischen Gräueltaten vor der Weltöffentlichkeit. Wie später bekannt wurde, hatte Hitler darauf einen Tobsuchtsanfall bekommen. Sofort wurden die Repressalien gegen die Bibelforscher verstärkt. Viele kamen gleich in die neuen Konzentrationslager. Bereits einige Tage bevor Lieschen vom Schwarzmantel abgeholt worden war, hatte man sie der Schule verwiesen, weil sie vor dem Lehrer partout nicht die Hand hochwerfen und »Heil Hitler!« rufen wollte.
David saß nur da und ballte die Hände zu Fäusten. Das Lieschen! Einfach den Eltern weggenommen. Er konnte es nicht fassen. Sara, Tabita und Benni waren noch in der Schule. Wenn die Blumenthal-Mädchen erst erfuhren, dass man ihnen die Freundin entführt hatte, dann würden sie schreien wie am Spieß. Als Mia Kramers Katze – trotz bester Fürsorge der Hermanns – vor zwei Wochen eingegangen war, hatten sie Rotz und Wasser geheult. Aber jetzt handelte es sich nicht um ein Schmusekätzchen, man hatte ihnen einen Menschen gestohlen.
Später am Tag fand Rebekka ihren Mann in dem großen Zimmer, das zum Hof gelegen war. Bis auf einen Schrank für Handtücher und Bettzeug gab es hier keine Möbel. In der Ecke standen ihre zerschrammten Koffer und Reisetaschen, griffbereit für die nächste Flucht. Ein Bügelbrett verriet
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