Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Auditorium der Universität statt. Wie erhofft, konnten die beiden dem Ereignis aus sicherer Entfernung folgen: letzte Reihe, rechter Block, dritter Platz. Rebekka hatte den Sitz Nummer zwei okkupiert. Der Randplatz gehörte einem älteren Herrn mit riesigem Schnauzbart, der seinen Zylinder selbst im Halbdunkel dieses abgeschiedenen Winkels nicht abnehmen wollte.
Als der letzte obligatorische Vorredner endlich dem Vizereichskanzler das Feld räumte, saß David wie erstarrt da. Voller Spannung verfolgte er die Rede. Weniger der Text interessierte ihn als die Art und Weise, wie Papen ihn vortrug. Durchaus selbstbewusst, registrierte er mit Genugtuung. David war gespannt auf die Reaktion der Zuhörer.
Edgar Jung ließ Papen zunächst von dem Anteil der Konservativen an der Machtergreifung sprechen und legitimierte damit die »Rechenschaft der Wahrheit an das deutsche Volk«. Mit anderen Worten hieß das: Hitler belügt euch alle, aber mein Verantwortungsgefühl zwingt mich, damit ein Ende zu machen. Dann rügte Papen die Beschneidung der Pressefreiheit und tadelte die Neigung der Nationalsozialisten zum »Byzantinismus«, einer unwürdigen Kriecherei also, der er sich keinesfalls anschließen wolle. Er empfahl die Rückkehr zur Monarchie als Alternative zum Führersystem. Im Auditorium war es während der ganzen Rede mucksmäuschenstill. Als Franz von Papen seiner Zuhörerschaft schließlich für deren Aufmerksamkeit dankte, hatte er klar Stellung bezogen, den Machtmissbrauch der Nationalsozialisten scharf verurteilt. Was würde nun geschehen?
Zunächst herrschte Grabesstille. Einige im Saal schienen nicht glauben zu wollen, was sie da eben aus dem Mund des stellvertretenden Reichskanzlers gehört hatten. Aber dann erhob sich begeisterter Applaus.
David beugte sich lächelnd zu Rebekka. »Wir haben es geschafft! Komm, lass uns hier verschwinden.«
Riposte
Franz von Papens Rede sorgte über die Grenzen der Universitätsstadt hinaus für Furore. Nicht wenige rieben sich klammheimlich die Hände, hatte sich doch endlich einmal einer getraut, dem »Großkotz Hitler die Meinung zu geigen«. Sogar Hindenburg schickte ein Glückwunschtelegramm an seinen wieder erstarkten Protege. Beim Hamburger Derby wurde Papen gar mit dem Ruf »Heil Marburg!« begrüßt – was den wütenden Goebbels zum fluchtartigen Verlassen der Veranstaltung nötigte.
David war in Hochstimmung. Auch Martin Niemöller äußerte verhaltenen Optimismus. Als Reaktion auf die repressive NS-Religionspolitik hatte sich auf der evangelischen Barmer Synode die Bekennende Kirche konstituiert. Hitler konnte also doch nicht alles und jeden gleichschalten. David war aufgeregt wie lange nicht mehr. Wurde sein Wunsch nun Wirklichkeit? War vielleicht auch die Sonnenwende des Jahres 1934 das Symbol für das Kürzerwerden der Tage Hitlers?
Als wolle ihn das Leben für die erlittenen Rückschläge entschädigen, überschüttete es David nun geradezu mit Glücksbotschaften. Eine weitere, wahrhaft aufregende Nachricht kam aus München, wo sich gerade Ferdinand Klotz aufhielt. Seit 1932 suchte der ehemalige Polizist nun schon nach den Angehörigen von Johannes Nogielsky. Jetzt hatte er eine Spur gefunden, ja, mehr als das.
Johannes’ Schwestern waren nach dem Großen Krieg an der »Spanischen Grippe« gestorben, aber seine Mutter, Katharina mit Namen, der Epidemie entronnen. Sie hatte einen Studienrat aus dem bayerischen Schwabach geheiratet. Später war das Paar nach München gezogen. Kurz nach Hitlers Machtergreifung war dann Katharinas Mann, ein gewisser Alois Stanglhuber, verhaftet und ins »Umerziehungslager« Dachau verschleppt worden. Im September teilte man Katharina mit, dass ihr Mann einen »Arbeitsunfall« erlitten und dabei sein Leben eingebüßt habe. Alois hatte mit den Sozialdemokraten sympathisiert.
Danach verlor sich Katharina Stanglhubers Fährte. So traurig die Geschichte von Johannes’ Mutter auch war, so sehr erfüllte die Nachricht David doch mit Zuversicht, dass sie noch lebte. Vielleicht konnte er nun bald den Brief des Sohnes, den er hatte in Notwehr töten müssen, der Mutter aushändigen. Damit wäre ihm endlich eine schwere Last von der Seele genommen.
Jetzt musste nur noch das Geheimnis von Jasons Träne gelüftet werden, dachte David, schrieb einmal mehr einen Anfeuerungsbrief an Lorenzo Di Marco und stürzte sich selbst wieder verstärkt in die Forschungsarbeit im Pergamonmuseum. Doch der Rausch der Hoffnung sollte
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