Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
die Hauptfunktion des Raumes. David hielt sein gezücktes katana in der Hand. Sein Blick lag auf der rasiermesserscharfen Klinge. Er schien mit den Gedanken weit weg zu sein.
»David!«, sagte Rebekka laut. Er zuckte zusammen, wirkte für einen Augenblick wie ein ertappter kleiner Junge. »Was ist mit dir, Liebster?«
Davids Augen wanderten wieder zum Schwert zurück. »Am liebsten würde ich zu Hitler gehen und ihm diese Klinge in den Bauch stoßen, und seinem Stellvertreter gleich mit.«
Rebekka trat schnell auf ihn zu und umarmte ihn von hinten. »Was redest du da? Du hast immer gesagt, du seist kein Mörder. Soll das jetzt nicht mehr gelten?«
»Vielleicht ist es meine Bestimmung Exterminans zu sein, einer, der das Übel von der Welt ›entfernt‹. Wäre das überhaupt möglich, ohne diese Unholde ebenso zu beseitigen, wie ich es mit Toyama getan habe?«
»Du bist wegen Lieschen so aufgebracht, stimmt’s?«
David drehte sich in Rebekkas Armen um, damit er ihr in die Augen blicken konnte. »Sie ist doch nur ein Kind, Bekka, gerade elf Jahre alt! Wie können sie nur so etwas tun und sie ihren Eltern wegnehmen? Von wegen ›Gefährdung des Kindeswohls‹. Pah! Dass ich nicht lache. Wann werden die Menschen endlich aufhören, sich von anderen Lügen auftischen zu lassen, anstatt die eigenen Augen und Ohren zu benutzen? Elisabeth Hermann gehörte zu den Besten ihrer Klasse…«
»Und beim Klavierunterricht stand sie Sara und Tabita in nichts nach«, stimmte Rebekka zu.
David nickte zornig. »Sie lacht wie ein normales Kind und sie spielt wie andere Mädchen auch. Selbst ›Himmel und Hölle‹, obwohl die Hermanns von dem teuflischen Hochofen nichts halten.«
»Wofür du vollstes Verständnis hast, wie ich weiß.«
»Nicht nur dafür, Bekka. Du kennst doch Wolf und Anneliese genauso gut wie ich. Sie lieben ihr Lieschen und man merkt es dem Mädchen auch an. Wie können die Nazis behaupten, das Wohl dieses Kindes sei in Gefahr?«
»Wir beide wissen, was für ein Humbug das ist. Allerdings fürchte ich jetzt um Lieschens Wohlergehen. Aber was hilft es, mit diesem Schwert da herumzufuchteln, als könne es sämtliche Probleme dieser Welt lösen? In der Wilhelmstraße hat sich Hitler eine braune Festung aus SA, SS, Geheimpolizei und was weiß ich noch allem gebaut. Du kannst nicht einfach in die Reichskanzlei spazieren und Löcher in ihn bohren.«
David senkte den Blick. »Das weiß ich selbst. Ich bin nur so… Ach, ich kann es nicht erklären.«
Rebekka drückte ihn und sah ihm von unten in die Augen. »Das könnt ihr Männer doch nie. Wozu bräuchtet ihr sonst uns? Du bist entmutigt. Das ist ganz normal, David. Meinst du, mir geht es anders? Mia sitzt in einem Frauengefängnis in Schwäbisch Gmünd, Richard und Horst sind in Konzentrationslagern. Und jetzt das mit Lieschen – ich könnte in einem fort heulen. Aber wenigstens einer von uns beiden muss stark sein, um den anderen wieder aufzurichten.«
David lächelte freudlos und streichelte Rebekkas Wange. »Darin hast du schon immer großes Geschick bewiesen.«
Der Verlust einer einzigen Kinderstimme nimmt einem Haus mehr Leben als das Verstummen vieler Erwachsener. So jedenfalls empfand es David, nachdem man Lieschen in eine »gute deutsche Familie« gesteckt hatte. Dennoch gab ihm die Veränderung neue Kraft, wenn es auch eher Zorn als Eifer war, der ihn da antrieb.
Das Lieschen wohnte jetzt in der Hermannstraße, etwa zwanzig Gehminuten vom Richardplatz entfernt. Ihre Pflegeeltern besaßen dort eine Eckkneipe und freuten sich über eine billige neue Arbeitskraft. Die Bezahlung beschränkte sich auf tägliche Essensrationen, von Liebe stand nichts im Vertrag.
Wenigstens durfte Lieschen wieder die Schule besuchen, wenn auch die strikte Weigerung für Hitler die Hand hochzuwerfen ihr weiterhin Schwierigkeiten bescherte. Bald nach der »Aufnahme im neuen Heim« fielen in Lieschens Klasse zwei Stunden aus und sie wusste nichts Besseres damit anzufangen, als nach Hause zu laufen.
Anneliese und Wolfgang brachen in Tränen aus. Vor Freude. Niemand hatte ihnen gesagt, wo das Lieschen untergekommen war. Jetzt erzählte sie, wo sie lebte, dass sie oft der Hunger plage, welche Arbeiten sie in der Wirtschaft zu verrichten habe, wie schlimm die Schimpfworte der Pflegemutter seien, wie leicht dem Kneipenbesitzer die Hand ausrutsche…
Von diesem Tage an gab es häufiger geheime Treffen zwischen den Eltern und der Tochter. Ein wenig wie bei Moses und
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