Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
seiner angeblichen Amme, die ja in Wirklichkeit seine Mutter war, vertraute Ester mit bittersüßem Lächeln Rebekka an.
Etwa zur gleichen Zeit – es war mittlerweile April geworden – kreuzten David und Edgar Jung auf einem Ausflugsdampfer über die Havel, Das launische Wetter hatte nur wenige Mutige ins Freie gelockt. Das weiße Schiff war daher fast leer.
»Franz von Papen wird am 17. Juni eine Rede vor dem Marburger Universitätsbund halten«, sagte Edgar. Mit seinen vom Wind zerzausten Haaren sah er wie ein exzentrischer Künstler aus.
David wusste bereits, dass dieser Vortrag des Vizekanzlers von besonderer Bedeutung war. Seit Monaten hatten sie auf diesen Tag hingearbeitet.
»Hat Papen irgendeinen Verdacht geschöpft?«
Edgar schüttelte den Kopf. »Nein. Jedenfalls glaube ich es nicht. Er scheint wirklich davon überzeugt, dass Hitler ihm persönlich gefährlich werden könnte. Nach außen hin mimt er natürlich den Einsichtigen: Hitler hätte Hindenburg gegenüber die Loyalität aufgekündigt und die Nationalsozialisten hätten sich als Raubritterbande entpuppt. Er müsse dem Ganzen unbedingt Einhalt gebieten.«
»Wenn ihm seine Parade gegen den ›Räuberhauptmann‹ doch nur gelänge! Vielleicht sollte ich die Aktion bei Hindenburg vorbereiten. Wenn Papens Rede den Reichskanzler wenigstens ein wenig zum Wackeln brächte, dann könnte der Reichspräsident ihn vielleicht ganz umstoßen.«
»Das solltest du unbedingt tun. Wir müssen jede Möglichkeit nutzen. Und zwar sofort!«
In den nächsten Tagen kämpfte David wie ein Berserker. Natürlich rein verbal. Bei Otto Meißner, dem Staatssekretär des Reichspräsidenten, stieß er auf erbitterten Widerstand. Der Generalfeldmarschall Hindenburg sei nicht mehr der Jüngste und müsse seine Kräfte auf die Staatsgeschäfte konzentrieren. Vielleicht später.
Später konnte zu spät sein. David nahm sich vor, regelmäßig nachzuhaken.
Inzwischen rückte die Reise nach Marburg immer näher. Rebekka bestand darauf, David zu begleiten. Edgar Jung hatte dafür gesorgt, dass die beiden Papens Rede persönlich beiwohnen konnten. Auch einige NS-Größen hatten sich angemeldet.
Bereits am Vorabend des Ereignisses reisten David und Rebekka mit dem Zug an. Marburg war ein malerisches Städtchen, direkt an der Lahn gelegen. Neben den Fachwerk- und Steinbauten aus dem sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert glänzte die ehemalige Residenzstadt der Landgrafschaft Hessen durch zahlreiche Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Seit es Universitäten gibt, haben sich die Studenten immer wieder wie Flöhe in den Pelz der Machthaber eingenistet. Jedenfalls mussten es die Potentaten so empfinden, wenn sie aus den Mündern ihrer geistigen Jungmannschaft unangenehme Fragen und provozierende Lieder vernahmen. Deshalb ließen die Mächtigen den Studenten auch zu allen Zeiten eine Sonderbehandlung angedeihen: Die einen verhätschelten sie und die anderen brachten sie um.
Der Ort war also gut gewählt, um Hitler einen Denkzettel zu verpassen, vielleicht sogar mehr. Man munkelte, die Marburger seien eine »aufmüpfige Bande«. David kannte bereits die von Edgar Jung ausgearbeitete Rede und war gespannt. Schon erstaunlich, dass Papen sich bereit erklärt hatte, das Manuskript vorzutragen.
Am Samstagabend aßen David und Rebekka in einem Wirtshaus nahe der Elisabethkirche. Durch schmale Gassen, über unebenes Kopfsteinpflaster suchte sich das Paar später den Weg zu seiner Pension. Die Gaslaternen gaben zwar schon ihr trübes Licht, aber noch tobte der Kampf zwischen Tag und Nacht, den manche verharmlosend Dämmerung nannten. Der ganze Himmel war ein blutgetränktes Schlachtfeld. Die Sommersonnenwende stand kurz bevor. Würde auch der nächste Tag eine Wende in Davids Kampf gegen den Kreis der Dämmerung bringen?
Unruhigem Schlaf folgte ein karges Frühstück: Vertrocknete Samstagsbrötchen mit Mutters Sonntagsmarmelade. Der Kaffee war bloßer Ersatz: Er schmeckte nach Malz.
Als das Paar sich später zur Universität begab, plagten David Zweifel. War es wirklich richtig, hier zu sein? Er hatte sich mit Rebekka zwar frühzeitig auf den Weg gemacht, um sich Plätze in den hinteren Reihen zu sichern, aber es bestand dennoch die Gefahr, dass Papen ihn sah. Vor der Abfahrt aus Berlin hatte Rebekka ihm noch einmal die Haare frisch eingefärbt – eher eine psychologische Maßnahme. Außerdem trug er seit gestern einen albernen Theaterbart.
Papens Vortrag fand im großen
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