Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Post aus Mailand bekommen. Das musste die Antwort von Lorenzo sein!
Am nächsten Tag fuhr er mit der Straßenbahn nach Tempelhof, um die Sendung abzuholen. Als er wieder am Richardplatz eintraf, sah er gerade noch eine »Grüne Minna« davonfahren, wie die Berliner die großen Kastenwagen der Polizei nannten. Im Hausflur traf er auf eine völlig aufgelöste Rebekka. Auch einige der Nachbarn hatten sich im Parterre eingefunden.
»Was ist passiert?«, rief David.
»Sie haben Rix abgeholt«, antwortete Chaim zerknirscht.
Rebekka schnäuzte sich in ein Taschentuch. »Rix werde verdächtigt, an staatsfeindlichen Aktionen teilgenommen zu haben, hat dieser abscheuliche Kerl gesagt. Du weißt schon, der mit dem schwarzen Ledermantel.«
Was denn nun eigentlich genau geschehen sei, wollte David wissen. Sei Rix etwa ein Bombenleger?
»Unsinn«, erwiderte Chaim. »Kommt erst mal rein. Im Hausflur gibt es zu viele gespitzte Ohren.«
Während Chaim im Wohnzimmer einen Apfelschnaps einschenkte, begann er seine Sicht der Dinge darzulegen. Dass die SPD am 21. Juni verboten worden sei, wisse David ja schon…
»Ja, ja«, unterbrach der ihn ungeduldig. »Ihre Funktionäre hat die Sipo eingesammelt und die Polizei sich in den Parteibüros eingenistet. Hitler hat mit dem Ermächtigungsgesetz alle Parteien außer der NSDAP weggefegt. Wir wissen das alles, Chaim. Aber was ist mit Rix? Der ist doch kein Minister, nicht einmal ein Funktionär.«
»Anscheinend spielt das keine Rolle mehr. Kennst du nicht das deutsche Sprichwort: ›Die Kleinen hängen sie, die Großen lassen sie laufen‹? Hitler sorgt endlich für Gerechtigkeit: Er hängt alle auf.«
»Nun mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, sagte Ester erschrocken. »Es ist doch schlimm genug, dass sie eingesperrt und zur Zwangsarbeit verpflichtet werden.«
Die Wohnungen im Haus am Richardplatz 4 schienen überaus begehrt zu sein. Bereits drei Tage nach der Festnahme von Richard Seybold fuhr ein großer Möbelwagen vor und starke Hände räumten die »Behausung des staatsfeindlichen Agitatoren« aus. Einen Tag später zog ein gewisser Herr Unmuth ein, der seinen Vornamen wie ein Staatsgeheimnis hütete. Unmuth war im RuSHA beschäftigt, dem »Rasse- und Siedlungshauptamt«, einer Unterabteilung der SS. Im Haus munkelte man, er habe sich hier vielleicht selbst eingenistet, um seinem Parteifreund und Nachbarn, dem Oberkommerzienrat Geyer, Gesellschaft zu leisten.
Während der Geyer seinem Unmuth kundtat, was bisher im Haus so gelaufen sei, verbündeten sich der erste Stock und das Parterre zu einer Einheitsfront gegen den höher gelegenen NSDAP-Block. In der Wohnung der abgestürzten Joleite hatte sich inzwischen ein neuer Mieter breit gemacht, gegen den die verblichene Jungfer ein wahres Mauerblümchen war.
Gottfried Herz schmückte sich mit dem schönen NSDAP-Titel eines Blockwarts. Äußerlich gab Herz nicht viel her. Er war kaum einen Meter siebzig groß, ziemlich beleibt, hatte ein bürstenartiges Hitler-Bärtchen, kurz geschorenes aschblondes Haupthaar und einen fleischigen Stiernacken. Letzterer legte sich jedes Mal in Fettfalten, sobald der Blockwart sein Kinn anhob, was er übrigens gerne tat.
Herz oblag die Überwachung der Linientreue aller Bewohner seines Reviers sowie die Meldung etwaiger Abweichungen. Sein Zuständigkeitsbereich – der »Block« – umfasste in diesem Fall nur den Richardplatz 4. Herz berichtete an die nächste Hierarchieebene, die Zelle. Auf diese folgte die Ortsgruppe, dann kam der Kreis und über allem thronte der Gauleiter. Eine Zelle mit Herz an der Spitze oder gar einen Kreis unter sich – das war sein ehrgeiziges Ziel. Doch sein Alter von fast fünfzig verlangte nach einem zügigen Marschtempo. Deshalb war er ein sehr aufmerksamer Blockwart.
Der Wachsamkeit von Herz entging wirklich so schnell nichts. Am Sonntag, dem 2. Juli, hörte David unfreiwillig ein Gespräch mit an, das Onkel Carl und Opa Heinrich vor dem offenen Fenster seines Arbeitszimmers führten. Die beiden alten Herren sahen den Kindern auf dem Gehweg beim Spielen zu, ließen sich die warme Sonne auf ihre morschen Knochen scheinen und diskutierten dabei neueste Fragen des religiösen Lebens. Doch nicht nur das.
»… deshalb glaube ich, dass der Herz uns verpfiffen hat«, wehte Opa Heinrichs Stimme herein. David spitzte unwillkürlich die Ohren.
»Aber was hat der Herz mit eurer Magdeburger Druckerei zu tun?«
»Mumpitz«, schimpfte Heinrich. »Die haben
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