Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
das große Hauptgebäude des Schreins zu. Der Garten war in düstere Stille getaucht. Kein Vogel sang. Nicht einmal ein Windhauch bewegte die Schilfstauden und Bungekiefern, die Büsche und Kirschbäume, die großzügig über das ganze Areal verteilt waren. David beschleunigte seine Schritte. Diese Ruhe gefiel ihm nicht.
Als er ungefähr einhundert Meter vom Schrein entfernt war, hörte er einen Schrei. Nein, es war ein Hilferuf. David begann zu laufen. Unwillkürlich musste er an Rebekka denken. Hatte auch sie damals um Hilfe gerufen, laut und klagend und doch vergeblich?
Mit langen Schritten rannte er an der östlichen Längsseite des Holzhauses entlang. Wieder ein Schrei, doch schwangen nun in ihm Todesfurcht und Schmerz. Als David die südöstliche Ecke des Gebäudes umrundete, sah er einen schnell schmaler werdenden Spalt in dem zweiflügligen Holzportal. Wer ihn da ausschließen wollte, ließ sich nicht erkennen, aber derjenige versuchte, die schwere Tür mit aller Kraft ins Schloss zu werfen.
Jedoch nicht schwungvoll genug. So schien es jedenfalls. Mit einem Mal blieb die hohe Tür stecken. David wusste, dass sie sich noch immer weiterbewegte – aber sehr, sehr langsam nur. Nach wenigen Sätzen hatte er das Portal erreicht. Er wappnete sich gegen einen Angriff, bevor er in die Halle stürzte, aber sein sechster Sinn meldete sich nicht.
In dem großen Raum herrschte graues Dämmerlicht. Es roch nach kaltem Weihrauch. David blickte sich nach allen Seiten um. In der Nähe stand ein Feuerbecken. An der Wand zu seiner Linken befanden sich hunderte weißer Papierstreifen, beschrieben mit den Wünschen und Gebeten der Gläubigen. Ein leises Stöhnen ließ ihn herumfahren. Rechts von ihm, in einer Ecke, die vom Eingang her schwer einsehbar war, entdeckte er den Priester. Er lag rücklings auf den Bodenplatten. Aus seinem Wanst ragte der Griff eines Kurzschwertes.
Rasch lief David zu dem Verwundeten und kniete sich nieder. »Wer war das?«, rief er in Akashis Ohr. Mit dem Priester ging es zu Ende.
Der drehte David das Gesicht zu und hauchte: »Ba Xun. Er ist Toyamas…« Der Rest der Antwort ging in einem Gurgeln unter.
Der Anblick des Sterbenden entfachte Davids Zorn. Früher hätte er in ähnlichen Situationen vielleicht die Fassung verloren, jetzt dagegen bewahrte er Ruhe. Diese kühle Entschlossenheit bedeutete nicht, dass er seine Gefühle verleugnete, er ließ nur nicht mehr zu, dass sie ihn beherrschten. Er beugte sich wieder zu dem Shintopriester.
»Wo befindet sich der geheime Eingang zu Toyamas Palast?«
Der Sterbende bewegte die Zunge, aber David hörte nur ein Röcheln.
»Akashi-san! Toyama soll bezahlen für das, was er dir angetan hat. Wo ist der Eingang?«
Die fleischige Rechte des Niedergestochenen, die bis dahin auf dessen Brust gelegen hatte, hob sich langsam, fiel dann an seiner Seite herab und klatschte auf die Steine. »Da!«, hauchte er.
Der ausgestreckte Zeigefinger des Priesters wies auf eine rechteckige Steinplatte. Sie sah aus wie alle anderen. Nicht einmal die Fugen schienen tiefer oder breiter zu sein. »Wie kann man die Platte bewegen?«, fragte David und wandte sich wieder Akashi zu. Doch der leere Blick des Priesters sagte ihm, dass dieser ihn nicht mehr hören konnte.
Für einen kurzen Moment schloss David die Augen. Der Mann mochte alles andere als ein Heiliger gewesen sein, aber so ein Ende hatte er nicht verdient. Ich will nicht mehr, dass andere für mich sterben! Entschlossen drückte er sich hoch und verfolgte mit seinen Augen den ausgestreckten Arm des Toten. Ein Wegweiser, der offensichtlich in die Irre führte…
Mit einem Mal fiel es David wie Schuppen von den Augen. In Gedanken zog er eine Linie von dem leblosen Arm über die Steinplatte hinweg bis zu einer Holztafel an der Wand. Die Täfelung des Raums bestand aus quadratischen Kassetten mit einer Seitenlänge von etwa dreißig Zentimetern. Die Flächen der Tafeln waren weiß lackiert. Jede Kassette hatte eine dünne goldene Umrandung.
David betastete das Holzquadrat, auf das Akashi zeigte. Er versuchte es in die Wand zu drücken. Es zu schieben. Nichts passierte. Vielleicht muss ich es drehen. Er probierte auch das aus: Erst im Uhrzeigersinn und dann… Klick!
Staunend sah David, wie sich links vom Leichnam des Priesters eine Bodenplatte erst nach unten senkte und dann zur Seite schob. Er hörte keinen Elektromotor summen, nur ein leises Schaben war zu vernehmen. Wie immer dieser Mechanismus funktionierte,
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