Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
offenbar voll ins Schwarze getroffen.
Mit einem Ruck wurde David hochgerissen und auf die Füße gezerrt. Dann baute sich ein fast zwei Meter großer Chinese vor ihm auf. Der grimmige Ausdruck auf Xuns Gesicht wirkte wie eingebrannt. Er war ein Mann wie ein Baum, mit seinem kolossalen Brustkorb und den muskelbepackten Armen in jeder Hinsicht unerschütterlich. Vom Kopf des Chinesen hingen lange, dünne grauschwarze Haarsträhnen, ähnlich denen, die aus seiner Oberlippe wucherten.
Nachdem Xun seinen Furcht erregenden Anblick auf den »Gast« hatte einwirken lassen, sagte er bedrohlich ruhig: »Mein Herr kommt und geht wie der Wind. Für die meisten ist er nie zu sehen, obwohl sie doch seine Macht spüren. Auch du wirst sie noch zu fühlen bekommen, David Camden. Früher, als dir lieb sein kann.«
Das Gefängnis hatte leider keine Wände aus Reispapier. Diese hier bestanden aus feuchten Ziegeln, der Fußboden war aus Fels. Im Licht einer Tranfunzel hatte David seine neue Umgebung schnell erkundet. Er befand sich in einem unterirdischen Gewölbe, das wohl der Unterbringung von Toyamas »Gästen« diente. Die karge Einrichtung war auf eine fleckige baumwollgefütterte Matratze beschränkt, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Wenn er die Löcher darin richtig deutete, dann hatten sich bereits die Ratten über ein gut Teil ihrer Füllung hergemacht. Der Schlafecke gegenüber stand ein Eimer – die Hygienezone des Etablissements. Das war der ganze Luxus.
Der Kerker hatte eine Höhe von etwa vier Metern, angesichts seiner Seitenlänge von weniger als drei Schritten durchaus beachtlich. David war über eine Deckenluke eingestiegen. Gnädigerweise hatte er nicht springen müssen, sondern eine Strickleiter benutzen dürfen.
Er blickte auf die Armbanduhr, die man ihm gelassen hatte. Seit seiner Gefangennahme waren erst wenige Minuten verstrichen. Wann würde Toyama in sein Domizil zurückkommen? Ja, war überhaupt noch mit seiner Heimkehr zu rechnen, nachdem man erst die Leiche des toten Priesters gefunden hatte? Angenommen Toyama blieb fern und General MacArthurs »kleiner Junge« kam stattdessen nach Hiroshima – David weigerte sich diesen Gedanken weiterzuspinnen.
Die vielen unangenehmen Fragen ließen für ihn die Zeit nicht gerade wie im Fluge vergehen. Er hatte sich ganz auf seine Gaben verlassen. Sich aus einem Gefängnis über der Erde zu befreien wäre für ihn kein Problem gewesen. Er hätte es wie damals in Marie Rosenbaums Küche machen können. Aber hier gab es keine Türen oder Wände, die man aus der Erdrotation ausklinken konnte.
Gegen drei Uhr nachmittags ließ ein Japaner, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt vorkam, an einem Seil eine tönerne Schüssel herab. Er entdeckte Reis mit Muschelsoße darin. David löste das Gefäß von dem Haken und blickte zu dem Mann hinauf, der die Leine schnell wieder einholte. Als die Klappe über ihm zuschlug, fiel ihm endlich ein, woher er seinen Wohltäter kannte.
Ohei Ozaki hatte ihn damals vor sechzehn Jahren Hachiro genannt und ihn als »lausigen Koch« bezeichnet. So schlecht konnte er eigentlich gar nicht sein, wenn er nach so langer Zeit noch immer für Toyama arbeitete.
David kostete mit den beigelegten Stäbchen den Reis. Das einfache Gericht schmeckte annehmbar. Offensichtlich hatte der Hausherr klare Anweisungen gegeben, wie während seiner Abwesenheit mit unverhofftem Besuch zu verfahren war. Oder war Toyama wieder einmal über Davids Absichten informiert gewesen? Hatte er ihn längst erwartet?
Es verstrichen weitere quälend lange Stunden, kein Geräusch drang aus dem Haus nach unten. Draußen senkte sich die Nacht herab. Als der Zeiger seiner Armbanduhr auf zweiundzwanzig Uhr vorrückte, verwandelte sich seine Unruhe in ernste Besorgnis. Nakamura würde auf ihn keine Minute länger als befohlen warten, dazu war er ein viel zu verlässlicher Offizier. Vermutlich hob sein Flugzeug noch vor dem zwölften Glockenschlag des 6. August vom Rollfeld ab.
Nach ungefähr einer halben Stunde hörte David endlich Schritte. Gleich darauf wurde die Luke über seinem Kopf aufgerissen. Das Gesicht von Ba Xun erschien. Er grinste.
»Mein Herr ist soeben eingetroffen und freut sich darauf, dich zu sehen.«
Die Strickleiter fiel vor Davids Füße. Langsam kletterte er aus seinem Verlies heraus. Ba Xun erwartete ihn mit der blitzenden Klinge eines japanischen Kurzschwertes in der Rechten. Zwei weitere Männer griffen nach Davids Armen und zogen ihn das letzte
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