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Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder

Titel: Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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und fixierte Pacelli. »Momentan befinden wir uns allerdings in einer Weltwirtschaftskrise, Eminenz. Kämen die Nationalsozialisten an die Macht, könnte dieses Szenario sehr schnell Wirklichkeit werden. Würde die Kirche dazu schweigen?«
    »Ich kenne das Fünfundzwanzig-Punkte-Programm der NSDAP, M. Cournot, aber Ihre Fragen sind mir zu hypothetisch. Tatsache ist doch, dass schon manches Parteiprogramm sehr schnell Makulatur war, sobald seine lautesten Propagandisten in der Regierung saßen.«
    David holte tief Luft. Warum haben Sie nicht einfach mit Nein geantwortet, Eminenz? Sein Gefühl sträubte sich dagegen, den Kardinal unter die Bundesgenossen Belials zu rechnen. Wenn nur dieser vermaledeite Handschuh ihm nicht buchstäblich den Durchblick nehmen würde! Das Ding musste endlich weg. Nur eine Enthüllung würde Klarheit bringen.
    Langsam lehnte David sich wieder nach hinten. Sein Blick haftete noch auf dem Blatt. »Also offen gestanden erfüllt mich dieses Papier mit tiefer Sorge, Eminenz. Es ist regelrecht gespickt mit alarmierenden Absichtserklärungen. Hier, an achtzehnter Stelle, ist das Programm ganz unmissverständlich: ›Gemeine Volksverbrecher, Wucherer, Schieber usw. sind mit dem Tode zu bestrafen, ohne Rücksichtnahme auf Konfession und Rasse.‹ Und so geht es immer weiter: In Punkt dreiundzwanzig wird die Presse ausgeschaltet, Nichtvolksgenossen sind aus den Zeitungsredaktionen zu entfernen, und in Punkt vierundzwanzig verpflichtet sich die Partei den ›jüdisch-materialistischen Geist‹ zu ›bekämpfen‹ – was immer das heißen soll. Ich…«
    »Monsieur!«, warf Pacelli ein. »Es widerstrebt mir, Sie zu unterbrechen, aber meine Zeit ist zu kostbar, um mir Ihre Tiraden gegen die Nationalsozialisten anzuhören. Ich dachte eigentlich, Sie wollten meine Meinung erfahren, um einen Bericht darüber zu verfassen.«
    David ließ die Blätter auf den Tisch fallen und schloss die Augen. Beruhige dich! Du bist zu weit gegangen. Erst nach einer längeren Pause sah er den Kardinal wieder an und sagte: »Entschuldigen Sie, Eminenz. Ich bin kein Diplomat wie Sie, der die betreffenden Zusammenhänge emotionslos abzuwägen vermag. Ich hege einfach die Befürchtung, in einem von Hitler regierten Deutschland könnten sich Pogrome wiederholen, wie sie um die Jahrhundertwende in Russland gang und gäbe waren. Das macht mir offen gestanden Angst.«
    »Ich kann Ihre Sorge verstehen und bis zu einem gewissen Grad sogar teilen, M. Cournot. Andererseits vertrete ich den Heiligen Stuhl, und der hat schon im Dritten und Vierten Lateranischen Konzil eindeutig zu den Juden Stellung bezogen. Damals mussten sie noch Schandzeichen tragen, weil sie es gewesen waren, die den Heiland ans Kreuz genagelt hatten.«
    David horchte auf »Ich dachte immer, Jesus hätte die religiösen Führer als wirkliche Anstifter entlarvt.«
    »Was wollen Sie nun wieder damit andeuten, M. Cournot?«, knurrte Pacelli. Vermutlich hätte er seine letzte Bemerkung gerne zurückgenommen. Er fühlte sich offenbar in die Enge getrieben. Sekundenlang blickte er seinem Gegenüber ins Gesicht, bis er endlich hauchte: »Wer sind Sie wirklich, M. Cournot?«
    Ein Schauer überlief Davids Rücken. War seine Maske nun doch gefallen? Bevor er diesen Raum verließ, musste er sich Klarheit über Pacellis mögliche Beziehungen zum Kreis der Dämmerung verschaffen. Wieder blickte David auf die Wölbung des verhüllten Kardinalsfingers und antwortete ruhig: »Ein Mensch, der die Wahrheit sucht.«
    »Die Wahrheit?«, wiederholte Pacelli, als spräche David vom Heiligen Gral. »Sie stammen doch aus der Neuen Welt, Monsieur. Dann haben Sie vermutlich William Penn gelesen. Er war kein Katholik, sondern Quäker, aber eines hat er trotzdem erkannt: ›Wahrheit leidet oft mehr durch den Übereifer ihrer Verteidiger als durch die Argumente ihrer Gegner.‹ Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, einem solchen Eiferer gegenüberzusitzen. Vielleicht lassen sich die Leser Ihres Magazins ja gerne von apokalyptischen Visionen und spektakulären Hypothesen mitreißen, ich jedoch bin Diplomat und habe die Wirklichkeit kennen gelernt.«
    »Sind Wahrheit und Wirklichkeit nicht miteinander verwandt?«
    »Da irren Sie sich gewaltig, Monsieur. Ob Monarch, Diktator oder gewählter Volksvertreter – alle sind sie Menschen, die ihre eigenen Wirklichkeiten erschaffen. Akzeptiert man diese, kann man ihnen vielleicht einen Vertrag abtrotzen und

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