Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
ich benötige höchstens fünf Minuten von seiner kostbaren Zeit. Sollte er dann zu dem Schluss kommen, unsere Unterhaltung führe zu nichts, werde ich mich sofort verabschieden.«
Frau Lämmle hüllte sich in nachdenkliches Schweigen, schließlich antwortete sie: »Bleiben Sie bitte einen Moment dran.«
David atmete erleichtert auf.
»A, unser Frau Lämmle is halt e rischtigs Lämmle!«, schwärmte der Pförtner zur Überbrückung der Wartezeit.
Der Besucher sah ihn nur verständnislos an. Ein Knacken in der Leitung rettete David vor weiteren Bemerkungen. Die Sekretärin teilte ihm mit, er werde umgehend von der Telefonzentrale mit dem Herrn Direktor verbunden.
»Danke«, sagte David. Fast wie im Vatikan! Er versuchte den Blick des Pförtners zu vermeiden.
»Dr. Fresenius am Apparat. Spreche ich mit David Pratt?« Die auffallend hohe Stimme klang ein wenig gereizt, nicht wirklich unfreundlich, aber so, als wäre der Bibliotheksleiter gerade aus tiefer Versunkenheit gerissen worden.
David atmete auf. Er entschuldigte sich für die Störung und stellte sich als Reporter des Time-Magazins vor.
»Wie sagten Sie, heißen Sie?«
David stutzte. Er wiederholte seinen Namen und fragte Fresenius, ob er jemand anderen erwartet habe.
Der Direktor zögerte einen Moment. »Um Ihnen darauf zu antworten, müsste ich zunächst einmal wissen, weshalb Sie gekommen sind.«
Wegen seines besonderen Interesses an der Bibliotheca Palatina, antwortete David. Dieses habe ihn von New York über den Vatikan bis nach Heidelberg geführt.
Die Nennung der Reiseroute schien Eindruck zu machen – Dr. Fresenius war mucksmäuschenstill. Aber dann antwortete er doch zurückhaltender als erhofft: »Ich bin zurzeit sehr beschäftigt, Herr Pratt.« Wieder zögerte Fresenius. Dann: »Sie sind nicht zufällig neu bei Time?«
Warum war der Direktor nur so seltsam distanziert? Fast schien er auf etwas zu warten… Mit einem Mal kam David ein Gedanke. »Dr. Fresenius, als Reporter benutze ich gelegentlich auch Pseudonyme. Kann es sein, dass ich Ihnen unter einem anderen Namen angekündigt worden bin?«
»Das müssten schon Sie mir sagen, Herr Pratt.«
Also hierher wollte mich Brit dirigieren, zu einem Teil der Bibliotheca Palatina! Mit einem Mal war sich David ganz sicher. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Jetzt durfte er durch langes Herumraten den Chefbibliothekar nur nicht misstrauisch machen. Einen Moment lang dachte er fieberhaft nach.
»Vermutlich erwarten Sie einen Francis J. Murray.«
In der Leitung knisterte es, aber keine Antwort kam. David hielt den Atem an, dann meldete sich der Direktor endlich wieder. »Eine seltsame Angewohnheit der Amerikaner, immer diese Mittelinitialen zu nennen, ohne aber deren Bedeutung preiszugeben.«
Davids Herz machte einen Sprung. »Manchmal sind diese Buchstaben einfache Platzhalter, dann wieder kennen nur Freunde ihre wahre Bedeutung. Das J in meinem Namen steht übrigens für Jacob.«
Am anderen Ende der Verbindung gab es erneut eine fast unerträglich lange Pause. Als David endlich wieder die Stimme des Direktors hörte, wollte er zunächst seinen Ohren nicht trauen.
»Ich dachte schon, Sie würden mich nie aufsuchen, Herr Murray. Heute kann ich Sie leider unmöglich empfangen, aber kommen Sie morgen wieder, um Punkt zehn.«
»Aber morgen ist Samstag.«
»Das ist der einzige Tag, an dem ich mich um Sie kümmern kann. Kommt Ihnen das ungelegen?«
»Nein. Ganz und gar nicht.«
»Gut. Also dann bis morgen, Herr Pratt. Und achten Sie auf die Dichterfürsten. Auf Wiederhören.«
Es klickte in der Leitung. Die wachsamen Augen des Pförtners hingen noch an den Lippen eines ziemlich ratlos wirkenden Besuchers. Was sollte dieser merkwürdige Hinweis? Nun ja, das würde sich am nächsten Tag schon zeigen. Vielleicht gehörten literarische Rätsel ja zu Dr. Fresenius’ Marotten.
Trotz der unliebsamen »Vertagung« verließen David und Rebekka den Bibliotheksbau voller Zuversicht. Rebekka wusste den angebrochenen Tag auf ihre Weise zu nutzen. Sie schleifte David zur Heiliggeistkirche, zur Karl-Theodor-Brücke und zu etlichen weiteren Sehenswürdigkeiten der Heidelberger Altstadt. Als er nach einem deftigen Abendbrot endlich ins Bett kriechen konnte, schlief er schnell ein.
Am nächsten Morgen kehrte die alte Nervosität zurück. David fragte sich, womit ihn wohl dieser Dr. Fresenius überraschen würde. Ungeduldig beobachtete er Rebekka bei ihrem ausgedehnten Frühstück. Er selbst
Weitere Kostenlose Bücher