Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
unweit des Kornmarktes. Im Erdgeschoss befand sich die Wirtsstube, die regelmäßig von den schlagenden Verbindungen der Heidelberger Universität genutzt wurde. Der Wirt verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Miene. Die Studenten seien bei der Entleerung von Bierhumpen nicht immer sehr rücksichtsvoll, es könne schon mal laut werden.
David und Rebekka waren zu müde, um sich eine andere Unterkunft zu suchen. Sie wollten nur noch etwas essen und dann ins Bett.
Als sie das Gepäck abgeladen und sich etwas frisch gemacht hatten, kehrten sie nach unten in die Wirtsstube zurück. Sie suchten sich eine heimelige Ecke neben einem wunderschönen Kachelofen. An den Wänden über der Sitzbank hingen Zinnteller mit Jagdmotiven. Unzählige Zigarren, Pfeifen und Zigaretten bliesen unablässig blauen Dunst in den Gastraum, nur mit Mühe konnte man gerade noch bis zum Schanktisch blicken.
In der Stube herrschte nun reger Betrieb. Wie angekündigt hatte eine Gruppe von fünfzehn oder zwanzig Studenten an einer langen Tafel Platz genommen. Die jungen Männer trugen runde Mützen ohne Krempe. Etliche hatten – teils noch blutige – Schmisse im Gesicht. Wenn die Studenten nicht gerade mit verbundenen Augen ihre Degen aufeinander niederfahren ließen, schienen sie sich mit sonderbaren Trinksprüchen die Zeit zu vertreiben, gefolgt von Unmengen von Bier, bis schließlich ihre Tonkrüge in verblüffendem Gleichklang auf die Tafel klapperten. Nachdem die Kehlen geschmiert waren, widmeten sie sich der Pflege deutschen Liedgutes – das stille Paar in der Ecke vernahm auffällig oft einen Refrain, in dem die Worte »Oh du schöner Westerwald« vorkamen.
»Ich glaube, jetzt verstehe ich, was der Wirt vorhin gemeint hat«, sagte David.
Rebekka lächelte ihn an und drückte seine Hand. »Und ich bin so müde, dass wohl selbst dieser Radau mich nicht am Einschlafen hindern wird.«
Beim Frühstück am nächsten Morgen brachte David kaum einen Bissen hinunter. Er hatte in der Nacht wenig geschlafen, war übermüdet. Sein desolater Zustand ging dabei weniger zu Lasten des störenden Humpenkrachens, das bis zur Sperrstunde angehalten hatte, als vielmehr der inneren Anspannung. Er war das reinste Nervenbündel. Nur um sich abzulenken – und weil sich Rebekka von alldem nicht im Geringsten beeindrucken ließ –, begann er in der Morgenzeitung herumzublättern. Zum Lesen der Beiträge fehlte ihm die Geduld, aber dann blieb sein Blick an einem Foto hängen.
»Bekka«, hauchte er, »sieh mal!«
Vom ernsten Ton seiner Stimme aufgeschreckt, umrundete sie den Tisch und blickte ihm über die Schulter. »Sieht aus wie ein Haufen Politiker auf einer Wahlveranstaltung.«
»Das Foto wurde in Berlin aufgenommen, in der Neuen Welt, was immer das auch sein mag. Da steht tatsächlich, es handele sich um eine Wahlversammlung der katholischen Zentrumspartei. Aber das ist nicht so wichtig. Siehst du den Mann da?«
Rebekka beugte sich noch etwas weiter herab. Ihr Haar kitzelte Davids Ohr. »Er ist ja nur von der Seite zu sehen und noch dazu halb verdeckt.«
»Genau wie gestern.«
»Du meinst, das ist der…?«
Die beiden wandten einander das Gesicht zu. Fast berührten sich ihre Nasenspitzen. David nickte. »Lorenzo Di Marco hat mit der Nationalität des Unbekannten richtig gelegen. Es handelt sich um denselben Mann, dem ich vor Pacellis Arbeitszimmer begegnet bin.«
»Steht da auch irgendwo, wann die Wahlversammlung stattfand?«
»Ja, gestern Vormittag.«
»Aber wie kann dann unser Phantom heute schon auf diesem Foto sein?«
David deutete auf ein einzelnes Wort unter der rechten Ecke des Bildes. »Sieh mal da, es handelt sich um ein Archivfoto, vermutlich kürzlich im selben Saal aufgenommen.«
Rebekka nickte. »Was keinesfalls heißen muss, dass der große Unbekannte nicht trotzdem gestern in Berlin war. Wenn er gleich nach der Unterredung mit dem Kardinal abgereist ist, hätte er es schaffen können.«
»Als wir in München ausstiegen, ist unser Zug geradewegs nach Berlin weitergefahren. Gut möglich, dass dieser Mann sich in einem der anderen Waggons befand.« Ein Logenbruder Lord Belials! Nein, das ist vielleicht zu weit gegriffen.
»David?«
»Schatz?«
»Sag bitte nicht, du willst jetzt nach Berlin weiter.«
»Warum denn nicht?«
»Weil ich dieses ewige Hin und Her allmählich satt habe. Ich weiß ja, wie wichtig diese Suche ist, aber ich bin so müde! Ich muss wieder zu Kräften kommen. Die Erlebnisse in Paris lassen mich nicht
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