Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
bekam keinen Bissen hinunter.
Einige lange Minuten später traten die beiden aus dem Studiosus. Rebekka wollte gerade die erste der drei Stufen zur Straße hinab nehmen, als sie erschrocken zurückprallte. Ein vielstimmiger Chor hatte jäh zu einem Lied angesetzt, in dem schon wieder die Schönheit des Westerwaldes gepriesen wurde. Das Paar blickte betroffen auf den vorbeimarschierenden Trupp. Es war weniger die Volksweise, die ihnen einen Schrecken einjagte, als vielmehr die uniformierten Männer in den braunen Hemden.
Alle trugen Reithosen mit den dazu passenden Stiefeln, lederne Schulterriemen, Schirmmützen, ähnlich denen der deutschen Landser im Großen Krieg, und Hakenkreuze am Oberarm. Die Kolonne schob sich wie ein riesiger brauner Wurm durch die Gasse. David fühlte einen kalten Schauer auf seinem Rücken. Obwohl der Gleichschritt dieser Schar allein schon bedrohlich genug wirkte, erschienen ihm die Gesichter der Marschierer nicht weniger beängstigend – manche waren gezeichnet von wilder Entschlossenheit, andere leuchteten wie von einer überirdischen Vision erhellt. Und einige der Uniformierten blickten feindselig auf die dunkelhaarige Frau an seiner Seite…
Schützend schob David seinen Arm vor Rebekka, weil ein kleinwüchsiger Marschierer sie besonders finster musterte, gerade so, als trüge sie ein gelbes Schandmal, wie man es den Juden im Mittelalter aufgezwungen hatte. David schüttelte blinzelnd den Kopf. Was für ein aberwitziger Gedanke! Woher sollte dieser kleine braune Wicht denn wissen, dass seine Frau Jüdin war?
»Was ist denn das!«, fragte Rebekka wie vom Donner gerührt.
David war zu keiner Antwort fähig. Er starrte nur auf die sich in ihrer Verzückung so ähnelnden Gesichter, die wie in einem schlammigen Strom an ihm vorübertrieben, Totenmasken ein und desselben Märtyrers. Für einen Moment verschwamm alles vor seinen Augen, die Menschen hörten auf, einzelne Individuen zu sein, wurden zu einer einzigen lärmenden braunen Masse.
»David, ich habe dich etwas gefragt!«
Rebekkas Stimme drang erst wieder richtig zu seinem Bewusstsein vor, als der letzte braune Sänger vorübergezogen war. Schon immer hatte er eine tiefe Beklommenheit verspürt, wenn Menschen sich blindlings einer Sache, Idee oder einer Person unterwarfen, aber nie war dieses Gefühl so stark gewesen wie jetzt. Dem Trupp mit finsterer Miene nachblickend antwortete er: »Ich habe von ihnen gelesen, Bekka. Das kann nur eine Abteilung der SA gewesen sein, Hitlers ›Sturmabteilung‹. Sie sind wohl noch schlimmer als Mussolinis Terrorkommandos. Angeblich besitzt die SA in ganz Deutschland schon achtzigtausend Mitglieder, und wo immer welche von ihnen auftauchen, gibt es Scherben, Prügeleien und manchmal sogar Tote.«
Rebekka hakte sich ängstlich bei David ein. »Komm, lass uns gehen.«
Mit schnellen Schritten legten sie die kurze Wegstrecke zum Bibliotheksneubau zurück. Doch die Eingangstür war verschlossen.
»Hoffentlich hat der Direktor uns nicht auf heute vertröstet, um uns auf bequeme Art und Weise loszuwerden«, murmelte Rebekka.
»Das glaube ich nicht. Am Telefon klang das gestern ganz anders.«
Rebekka strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Hattest du nicht etwas von einem Rätsel des Direktors erwähnt?«
David zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht ganz schlau aus seiner Bemerkung geworden. Dr. Fresenius meinte, ich solle auf die Dichterfürsten achten.«
Rebekka blickte an der Fassade des Gebäudes empor. Da gab es keine schmückenden Verzierungen, keine Büsten großer Poeten oder deren weise Sprüche, die als Schlüssel zu den geheimnisvollen Worten des Direktors hätten dienen können.
»Vielleicht hat das Gebäude einen Nebeneingang«, sagte David. »Komm, lass uns mal nachsehen.«
Kurz darauf stießen sie auf eine weitere Tür, an der jemand mit einer Reißzwecke ein weißes Blatt Papier geheftet hatte. Auf dem Bogen prangten in blauer Tinte und großer kraftvoller Schrift nur zwei Zeilen. Die jedoch konnten einem das Fürchten lehren:
Ich bin der Eingang in die Stadt der Schmerzen… Du, der du eintrittst, alle Hoffnung ab.
»Liest sich wie die Warnung eines überkandidelten Intellektuellen«, brummte David.
»Das ist von Dante«, meinte Rebekka, ohne den Blick von dem Zettel zu nehmen. »Diese Sätze stammen aus seiner Göttlichen Komödie und gehören zu der Inschrift, die über dem Tor zur Hölle angebracht ist.«
David hatte es längst aufgegeben, sich über
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