Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Rebekkas breites Wissen zu wundern. »Dann hätten wir wohl unseren ersten Dichterfürsten gefunden«, verkündete er zufrieden und drückte die Klinke. Die Tür war unverschlossen.
Sie gelangten in einen größeren bestuhlten Raum. Möglicherweise wurden hier ja gelegentlich jene großen Dichter und Denker, aus deren Weisheiten Dr. Fresenius anscheinend seine Rätsel bastelte, einem geneigten Publikum zu Gehör gebracht. Durch eine weitere Tür kam das Paar in eine großzügige Eingangshalle, von der aus man die anderen Stockwerke des Bibliotheksgebäudes erreichen konnte. Im Foyer gab es mehrere Türen, aber keine stand offen. Nirgends hing ein Zettel, der zum Eintreten ermunterte. Rebekka wollte die Treppe nach oben nehmen, aber David hielt sie zurück.
»Warte, Schatz. Wenn Fresenius uns mit einer Höllenpforteninschrift hier hereingelockt hat, dann sollten wir mit unserer Suche vielleicht nicht oben, sondern im Keller beginnen.«
Rebekka grinste. »Du hast Recht. Der kommt der Hölle noch am nächsten.«
Schnell fanden sie eine unverschlossene Tür, hinter der sich eine abwärts führende Treppe befand. In dem Gang brannte sogar elektrisches Licht. Das Paar machte sich an die Erkundung der Unterwelt.
Die »Hölle« der Bibliothek bestand aus einem sauberen Gang, von dem etliche Türen abgingen. Als David schon fürchtete, aus den Dante-Worten doch die falschen Schlüsse gezogen zu haben, bemerkte er ein neues Blatt an einer weiteren »Pforte«. Diesmal klang die Einladung erheblich freundlicher:
Warum stehen sie davor? Ist nicht Thüre da und Thor? Kämen sie getrost herein, Würden wohl empfangen seyn.
»Ist das nun der Wegweiser zu Dantes Paradies?«, erkundigte sich David.
Rebekka schob die Unterlippe vor. »Das glaube ich weniger. Ich habe diese Worte noch nie zuvor gelesen.«
»Macht nichts. Sie sind auch so zu verstehen.« David klopfte an die Tür, und als von innen niemand antwortete, trat er einfach ein.
Sie gelangten in einen großen Raum, dessen genaue Abmessungen durch die vorherrschende Dunkelheit nicht auszumachen waren. Die Tür hätte tatsächlich in eine Unterwelt führen können – so es dort Regale mit Büchern gab. Etwa fünf Schritte vom Eingang entfernt kämpfte ein einzelner Glühfaden in seinem luftleeren Glashaus gegen die Finsternis an und verstrahlte gelbes Licht über einen verlassenen rechteckigen Tisch. Nur ein einsamer Stuhl stand davor und hütete die Schätze auf der ramponierten Holzplatte: ledergebundene, altertümlich wirkende Bücher.
Diese Szene hätte ein stimmungsvolles Bild abgegeben, verewigt in Öl, aber plötzlich zerstörte ein Geräusch die fast vollkommene Illusion. Aus einer düsteren Ecke des Stilllebens trat ein ungewöhnlich kleiner untersetzter Mann hervor, unter dem Arm einen braunen Lederfolianten, in der Rechten eine Taschenlampe. Er mochte fünfzig, vielleicht auch schon an die siebzig sein, machte aber gleichwohl einen äußerst agilen Eindruck.
»Oh, ich habe Sie gar nicht kommen hören«, sagte der Kleine, und es klang belustigt, als er hinzufügte: »Willkommen im inneren Kreis des Infernos!«
Für einen Herrscher der Unterwelt sah dieser Gnom ausgesprochen harmlos aus. Er trug einen schon etwas zerbeulten schwarzen Anzug mit Weste und eine runde Brille. Ein goldgelber Schimmer schien den runden Kopf zu umgeben, denn die Haare waren so kurz und dünn, dass sie als solche gar nicht mehr recht zu erkennen waren. Auf dem Scheitelpunkt des Hauptes spiegelte sich das Licht der Glühbirne. Zwei lebhafte braune Augen betrachteten interessiert das Paar.
»Ich nehme an, Sie sind Herr Murray alias Pratt – oder ist es anders herum richtig?« Der Kleine kicherte.
»Das ist völlig gleich«, antwortete David. Etwas unsicher streckte er dem Männlein die Hand entgegen.
Dieses befreite sich umständlich von Buch und Lampe und ergriff Davids Rechte. Der kleine Bücherwurm hatte einen erstaunlich festen Händedruck. Mit seiner leisen Stimme sagte er: »Wie Sie sich denken können, bin ich Anton Fresenius. Den Doktor können Sie weglassen – heute ist Samstag. Verzeihen Sie den verschwörerischen Charakter dieses Treffens, aber da Ihr Kontaktmann sehr nachdrücklich an meine Verschwiegenheit appelliert hat, konnte ich Sie unmöglich während der normalen Dienstzeiten empfangen.«
David entsann sich des aufmerksam lauschenden Pförtners und dankte dem Bibliothekar für seine Vorsicht. Anschließend stellte er Rebekka vor.
»Dann haben Sie
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