Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
mir die grundlegenden Ideen für die spezielle Relativitätstheorie nie in den Sinn gekommen.«
»Irgendwie erscheint mir der Gedanke, frei durch die Zeit reisen zu können, dennoch nicht plausibel. Theoretisch, mit einem Haufen mathematischer Formeln, mag das ja möglich sein, aber die Wirklichkeit sieht doch wohl…«
»Die Wirklichkeit, Mr Pratt, ist immer das, was Sie dafür halten. Und insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.«
»Mit anderen Worten, die Durchführbarkeit von Zeitreisen lässt sich nicht wirklich belegen.«
Einstein verdrehte theatralisch die Augen zur Verandadecke. »Oh, diese Kleingläubigen! Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.«
»Ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen.« David klang ein wenig gekränkt.
»Wie Ihnen geht es den meisten Menschen«, sagte Einstein mit routinierter Nachsicht. »Von Geburt an wachsen wir mit einem dreidimensionalen Weltbild auf – Höhe, Länge und Breite, mehr gibt es nicht.« Er kniff verschmitzt lächelnd das linke Auge zu. »Aber es gibt eben doch mehr, Mr Pratt. Die Zeit! Sie ist die vierte Dimension. Manche vergleichen sie mit einem Strom, der nur in eine Richtung fließt. Aber das halte ich zumindest für zweifelhaft. Inzwischen gibt es Verbrennungsmotoren und Propeller – man kann Flüsse auch hinauffahren.«
»Und wie würde ein Zeitmotor aussehen?«
»Ich kann Ihnen sagen, was er bewirken müsste: den Zeitreisenden schneller bewegen als das Licht. Zugegeben, das zu bewerkstelligen dürfte nicht ganz einfach sein, zumal ich die Lichtgeschwindigkeit für eine Grenzkonstante halte, über die man sich nicht erheben kann.«
Bis zu diesem Punkt war Davids Begriffsvermögen bereits arg strapaziert worden. Beinahe trotzig antwortete er: »Und wenn man das Licht verlangsamen könnte?«
Einstein war von dieser Idee sofort begeistert. »Den Spieß einfach umdrehen? Warum nicht? Alles ist relativ. Nein, das ist sogar ein famoser Gedanke: Man bremse das Licht einfach auf Schrittgeschwindigkeit ab und laufe dann an ihm vorbei in die Vergangenheit.«
»Jetzt machen Sie sich lustig über mich!«
Einstein kicherte schelmisch. »Das hört sich nur so an. Zu Ihrer Beruhigung: Spätestens seit der Sonnenfinsternis von 1919 weiß man, dass Körper mit einer sehr großen Masse – etwa ein Stern – das Licht beugen können. Wenn die Gravitation nur groß genug wäre, könnte solch ein Körper das Licht gewiss auch ›festhalten‹, um es einmal bildlich auszudrücken.«
»Gäbe es an einem solchen Ort überhaupt noch so etwas wie Zeit?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Oder sie würde ganz anderen Gesetzen gehorchen, als wir es uns mit unserem begrenzten Verstand überhaupt vorstellen können.«
David nickte zerstreut und in Gedanken wiederholte er Einsteins schlichte Feststellung. Alles ist relativ. »Ich habe nie über Geschwindigkeit unter dieser Prämisse nachgedacht. Wenn ich bisher auf die Bremse eines Autos getreten bin, hat das für mich immer nur eine Verlangsamung bedeutet. Aber der Fahrradfahrer auf der Straße neben mir erlebt denselben Vorgang für sich und seinen Drahtesel als relative Beschleunigung.«
»Die Physiker sehen im Bremsvorgang auch eine Beschleunigung, nur eben eine mit umgekehrtem Vorzeichen. Aber so ist das eben mit uns Menschen: Alles legen wir negativ aus. Denken Sie nur an meinen geschätzten Freund Gödel. Ihm zu Ehren spricht man vom Gödelschen Un vollständigkeitssatz, nach Wolfgang Pauli hat man das Pauliverbot und nach Heisenberg die Unschärferelation benannt. Vielleicht entdecken Sie ja mal etwas Positives: die Pratt’sche Zeitverdoppelung.«
In Davids Kopf schwirrten aberwitzige Gedanken durcheinander. »Ich glaube, wir sollten das Thema wechseln, sonst verliere ich noch den Verstand.«
»Am Anfang geht es vielen so«, beruhigte ihn der Physiker. »Manche bekommen kalte Füße und erklären die Physik zur metaphysischen Wissenschaft, aber wenn ihre grauen Zellen erst gehörig auf Trab gebracht worden sind, fangen sie plötzlich Feuer – darin sind sich der Mikrokosmos und das normale Leben verblüffend ähnlich.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich rede von der Bewegungsenergie der Elemente, die mit Wärme in Beziehung gesetzt wird. Gegen kalte Füße hilft Trampeln, besser noch schnelles Laufen. Um einen Eiswürfel aufzutauen, müssen
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