Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
forschende Blick in die Zukunft, der auch die Sorge um die ungeborenen Nachkommen mit einschloss –, all das wurde zusehends auf ein Jetzt-Erlebnis reduziert, geopfert auf dem Altar des schnellen Konsums. Er hatte ja ein gewisses Verständnis für jene, die ihr in den unsicheren Zeiten des Zweiten Weltkriegs Angespartes nun zur Erfüllung lang gehegter Wünsche ausgegeben wollten, aber musste sich in der aufkommenden Überflussgesellschaft denn alles nur noch um Vergnügen und Lustmaximierung drehen? Die Bilanz von vierundfünfzigtausend gefallenen GIs im Koreakrieg und die damit einhergehende ernüchternde Wahrheit, nicht immer der strahlende Sieger sein zu können, mochte für viele patriotische Amerikaner ja eine kalte Dusche bedeutet haben, doch deshalb gleich den Genuss zu einem goldenen Kalb zu machen, erschien David doch reichlich übertrieben. Er beobachtete diese Veränderungen mit Schrecken, weil er sich vorstellen konnte, wie Lord Belial darüber dachte: Wer lernt, wie ein Tier zu leben, der wird auch irgendwann wie ein Tier sterben. Um das zu verhindern – den Sprung der menschlichen Lemminge über die Klippe der Hoffnungslosigkeit –, verließ David mit Javier Gonzales’ »Abschiedsgeschenk« schon am nächsten Tag die kubanische Hauptstadt. Auf Reisen durch politisch instabile Regionen können eine Million Dollar leicht abhanden kommen und Freiheit sowie Gesundheit noch dazu. Um dieses Risiko auszuschließen, flog David zunächst nach New York. Außerdem wollte er seine nächsten Schritte gründlich vorbereiten, wozu auch die Abstimmung mit Ruben gehörte. Dieser freute sich ausnehmend über Davids Rückkehr. Und natürlich über die Million. Die »Kriegskasse« war praktisch leer gewesen, jetzt eröffneten sich für den Kreisjäger und seinen Vermögensverwalter ganz neue Perspektiven.
Auf Davids Schreibtisch häuften sich die Briefe. Erst angesichts dieses Papierberges wurde ihm bewusst, wie groß seine in der Welt verstreute Bruderschaft inzwischen geworden war. Offiziell wandten sich seine Freunde und Helfer nur an eine Nachrichtenagentur in New York. Den Kopf voller Reisepläne, näherte er sich zunächst eher zögerlich dem Riesenstapel, aber dann sah er ganz obenauf einen Umschlag mit israelischer Absenderadresse liegen. Er stammte von Zvi Aharon.
Lieber David!
Die gemeinsame Zeit in Nürnberg ist mir in angenehmer Erinnerung. Umso mehr plagt mich das schlechte Gewissen, dir erst jetzt antworten zu können. Dein Brief lag im Haus meiner Eltern unter einem Berg von anderen Dokumenten. Schuld daran bin ganz allein ich, habe ich seit der Unabhängigkeit von Medinat Israel doch alle Hände voll zu tun gehabt mein eigenes Leben und das vieler meiner Landsleute zu retten. Manchmal glaube ich, es jeden Tag aufs Neue tun zu müssen, obwohl ich längst nicht mehr in der Zahal kämpfe. Ich bekleide jetzt eine leitende Position in einem Staatsunternehmen, das gerade erst im Aufbau begriffen ist. Mein Chef ist ein grenzenlos misstrauischer Zwerg aus dem russischen Witebsk. Unter Kollegen kursiert das Gerücht, nur Hunde und Kinder hätten keine Angst vor seinen harten blauen Augen. Er hat sich für seine Behörde viel vorgenommen. Manchmal komme ich mir vor wie auf einer Eliteschule, deren Credo die Perfektion ist. Aber ich will dich nicht mit meiner beruflichen Laufbahn langweilen. Du hattest mich gebeten, in den Schriftrollen von Chirbet Qumran nach jenen Verschwörern zu forschen, über die wir uns in Nürnberg so ausführlich unterhielten. Zunächst ist mir dieser Wunsch ziemlich eigenartig vorgekommen. Wusstest du, dass diese Funde von einem achtköpfigen internationalen Team aus Wissenschaftlern im Palestine Archaeological Museum, also im jordanisch kontrollierten Ostjerusalem, untersucht werden? Kein jüdischer oder israelischer Gelehrter gehört zu dieser Forschergruppe. Wie also sollte ausgerechnet ich, ein einfacher Soldat, zu diesen wertvollen und gut behüteten Handschriften Zugang finden? Selbst wenn es mir gelänge: Woher sollte ich die Kenntnisse und die Zeit nehmen, sie zu durchforsten? Seltsamerweise – fast kommt es mir vor, als hättest du davon gewusst – gibt es jemanden, der mein uneingeschränktes Vertrauen genießt und den ich nun auf die Sache angesetzt habe. Du musst dich aber noch etwas gedulden. Mein Partner muss sehr vorsichtig zu Werke gehen. Bis ich wieder von mir hören lasse, senden Geulah und ich dir unsere herzlichsten Grüße. In freundschaftlicher
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