Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
allen vier Seiten hat. Wozu, wenn man ihn doch nur über diesen einen Steg betreten kann?«
»Ein Symbol der Offenheit für jedermann.«
»Offenheit?« Missmutig schaute David über das weite Areal. Der tiefliegende Tempel glich einer wehrhaften Insel. Ohne Frage konnte man sich in ihm nicht nur trefflich verschanzen, sondern auch ungestört mit frommen Riten, heiligen Schriften und störrischen Geiseln beschäftigen. »Ich mag es nicht besonders, wenn sich bei einem Unternehmen alle Trümpfe in der Hand des anderen befinden.«
»Zangh Singh ist zwar ein glühender Patriot und schreckt auch vor Gewalt nicht zurück, wenn sie ihm nützlich erscheint, aber auf seine Art ist er verlässlich. In diesem Fall kannst du ihm vertrauen, Sahib.«
»Ich hoffe nur, für seine Khalsa-Krieger gilt das Gleiche.«
Fast hatten sie das Ende der Brücke erreicht, als ihnen ein wohlbeleibter kleiner Sikh entgegenwatschelte. Er trug einen weißen Turban, war also fromm. Mit vor der Brust zusammengelegten Händen und einer schnellen Verbeugung brachte er den traditionellen Gruß hinter sich, bevor er in holprigem Englisch loskeuchte: »Ich bin Ranjit Pasi, der Leibdiener des Meisters. Er erwartet Euch bereits.«
»Sind wir zu spät?«, fragte Balu verwundert.
»Keineswegs, der Meister ist heute nur etwas… ungeduldig.«
»Dann wollen wir ihn nicht länger warten lassen.«
Ein auf der Brücke angebrachtes Messinggeländer diente der Trennung von kommenden und gehenden Besuchern. David fiel auf, dass auf der rechten Seite zwar etliche Personen das Gebäude verließen, er und Balu aber links die Einzigen waren, die das Heiligtum zu betreten beabsichtigten.
»Bitte hier entlang«, sagte Pasi und deutete mit einer ehrerbietigen Geste in den prunkvollen Gurdwara.
David betrat den Tempel durch eine überraschend enge und niedrige Tür, über der sich drei kleine Fenster befanden. Innen setzte sich fort, was außen begonnen hatte. Die Besucher wandelten über kunstvoll in Stein gearbeitete Ornamente, unter runden Bögen hindurch und an Wänden entlang, die, ebenso wie die Decken, vor Gold und erlesenen Materialien nur so strotzten. Bald stand David dem Mann gegenüber, der sich diesen ungewöhnlichen Treffpunkt ausbedungen hatte.
Zangh Singh war eine eindrucksvolle Persönlichkeit: stattlich, alt und einäugig. Im Gegensatz zu anderen Würdenträgern, die ihre Gäste gerne im Sitzen empfingen, stand er unter dem Bogen eines Durchganges und stützte sich würdevoll auf einen mächtigen Krückstock mit silbernem Knauf.
»Meister, Eure Gäste sind eingetroffen«, kündigte Pasi die Besucher an, als sei auch Singhs zweites Auge blind.
»Sei bedankt, Pasi«, antwortete Meister Zangh Singh und entließ den Diener mit einer knappen Geste.
Eingehend musterte er dann seine Gäste. Vor allem dem »Mohr« schien sein Interesse zu gelten, wie David unbehaglich feststellte. Der glühende Patriot Singh trug den blauen Turban der himmelweiten Vorurteilslosigkeit, ein knöchellanges weißes Hemd aus kostbarem Leinen und hatte einen üppigen, mit zahlreichen Silberfäden durchwirkten Vollbart.
»Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn wir uns nicht auf Punjabi, sondern in Ihrer Sprache unterhalten, Mr Pratt«, eröffnete Meister Zangh Singh das Gespräch in makellosem Englisch und zeigte mit der Hand hinter sich. »Kommen Sie, bitte. Ich habe dafür Sorge getragen, dass wir uns dort eine Weile völlig ungestört unterhalten können.«
David deutete eine Verbeugung an und folgte an Balus Seite dem vorangehenden Sikh. Jetzt verstand er, warum nach ihnen niemand mehr die Brücke zum Goldenen Tempel betreten hatte. Respektvoll antwortete er: »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, ehrenwerter Singh. Mit meinen Kenntnissen der hiesigen Sprache käme ich im Basar nicht einmal an eine Schüssel Reis. Abgesehen davon ist es eine große Ehre für mich, den Goldenen Tempel betreten zu dürfen.«
Meister Zangh Singh schritt feierlich um einen großen Tisch, auf dem ein gewaltiges Buch lag, und nahm dahinter Platz. Einen Moment lang ruhte sein Blick amüsiert auf dem fremden Gesicht. Erst dann sagte er: »Ich habe mich gefragt, ob Sie wirklich den Mut aufbringen würden, hierher zu kommen, Mr Pratt. Es war, wenn Sie so wollen, der erste Teil einer Prüfung. Sollten Sie sie bestehen, werde ich Ihnen helfen. Ich wollte sehen, wie ernst Ihnen Ihr Anliegen ist, den verwerflichen Mord an Bapu aufzuklären. Sie werden wohl wissen, was die Briten uns Sikhs vor nun
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