Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
stimmt nicht, mein Freund. Ich vermisse ihn und leide unter dem Eindruck dessen, was man ihm angetan hat. Aber ich kann weder alle Übeltäter dieser Welt noch ihre Verbrechen ausmerzen, sondern muss mich auf die Dinge konzentrieren, von denen ich glaube, sie auch wirklich tun zu können.«
»Es wäre keine Staatsaktion gewesen, den Bericht über Mehta bei der nächsten Polizeistation abzugeben. So hätte er wenigstens die Strafe bekommen, die er verdient.«
David brachte den Geländewagen in einer Staubwolke zum Stehen, drehte sich zur Seite und blickte seinem Freund in die Augen. »Hat er das denn, Balu? Ich meine, ist ein Strick oder lebenslanger Kerker das Richtige für ihn? Oder ist nicht die Leprainsel sogar eine viel schlimmere und möglicherweise gerechtere Strafe? Und wer sagt denn, dass die Polizei im Punjab nicht auch auf der Gehaltsliste von Ben Nedal steht? Willst du dafür garantieren, dass Mehta einen fairen Prozess bekommt und nicht schon morgen von einem anderen Meuchler Belials umgebracht wird? Also ich vermag die Antworten auf all diese Fragen nicht zu geben. Ich weiß nur eines: Dr. Browne hat einen klaren Verstand, er ist ein Menschenfreund und wird die richtige Entscheidung treffen, weil er sich dafür viel Zeit nehmen kann. Erheblich mehr jedenfalls, als mir zur Verfügung steht.«
Der alte Inder kannte David viel zu gut, um nicht zu wissen, dass dessen Entscheidung endgültig war. Er wandte sich ab und blickte schweigend durch die gesprungene Frontscheibe auf die Piste.
David legte den Gang ein und fuhr weiter.
Wieder verging eine geraume Zeit, bevor sich Balu erneut meldete. »Dann willst du jetzt also wirklich nach Karachi fahren und diesem Ben Nedal in die Suppe spucken, Sahib?«
Mit einem Mal musste David lachen. »Mit dieser rasenden Nähmaschine? Ich bin doch nicht lebensmüde!«
Das Überschreiten der »Religionsgrenze« nach Pakistan bedeutete für David den Verlust eines Tages. Denn der Freitag gehört in der muslimischen Welt dem Gebet und nicht der Eisenbahn. In Lahore achtete man sehr streng darauf, wenigstens am 6. Februar 1948.
Nach einigem Hin und Her hatte David dem Vorschlag Balus zugestimmt, einen seiner Geschäftsfreunde um eine Unterkunft für eine Nacht zu bitten, was sich noch als ausgesprochener Glücksfall erweisen sollte. Herbergen waren nicht sicher. Der Überfall in Amritsar hatte gezeigt, wie gefährlich Fragen werden konnten. Ben Nedal musste ein weit gespanntes Netz von Zuträgern besitzen. Als David und Balu daher am Donnerstagabend im Schatten eines Minaretts Muhammad Alis Haus betraten – den Kopf voll drückender Erinnerungen und tollkühner Pläne –, ahnten sie noch nichts von ihrer Zwangspause.
Yar Muhammad Ali war ein Karneolhändler, ein kleiner fülliger Mann von nicht ganz vierzig Jahren, gesegnet mit einem dichten dunklen Vollbart und einem sonnigen Gemüt. Balu kannte ihn seit mehr als zehn Jahren und David spürte bald, dass er diesem Moslem trauen konnte. Jedenfalls, solange er nicht mit ihm um dessen Schmucksteine feilschte. Yars Spezialität waren nämlich röhrenförmige Perlen, etwa eine Handspanne lang und durch ein bestimmtes Brennverfahren leuchtend orangerot gefärbt. Karneolperlen würden am Indus schon seit Jahrtausenden hergestellt, aber niemand habe Stücke mit so prächtigen Farben wie er, Yar Muhammad Ali. Ob der englische Sahib nicht ein Geschenk für die Frau seines Herzens kaufen wolle? David lehnte das Angebot mit einem bitteren Lächeln ab.
Yar besaß jenes Feingefühl für menschliche Regungen, das einen begnadeten von einem nur passablen Händler unterscheidet. Als er den Gast auf seine traurigen Augen hin ansprach, begann David vom tragischen Schicksal seiner jüdischen Frau zu erzählen. Und weil er die Aufrichtigkeit Yars spürte, ließ er auch beiläufig einige Bemerkungen über die Verschwörergruppe fallen, die er seit Jahren jagte. Auch Gandhis Ermordung blieb an diesem Abend nicht unerwähnt. Der Karneolhändler nahm starken Anteil an dem Bericht. David registrierte es mit stiller Freude. War dies etwa ein neuer »Bruder«, den es zu gewinnen galt?
Das gemeinsame Abendessen näherte sich bereits dem Ende, als die Pläne für den kommenden Tag angesprochen wurden. Er und der Sahib würden mit dem Zug in die Hauptstadt reisen, bemerkte Balu eher beiläufig.
Daraufhin begann Yar zu lachen. Sein Heiterkeitsausbruch galt der offensichtlichen Zerstreutheit seines hinduistischen Geschäftspartners. »Dir
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