Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
sollte inzwischen doch bekannt sein, dass sich bei uns am Freitag nicht viel abspielt, abgesehen vom Besuch der Moschee natürlich. Sofern ihr euer klappriges Blechkamel nicht selbst aus der Stadt treibt, werdet ihr wohl bis Sonnabend in Lahore bleiben müssen.«
Balu war dieser Fauxpas ungemein peinlich. Er funkelte seinen langjährigen Geschäftspartner an. »Könntest du nicht…«
»Nein, kann ich nicht«, schnitt Yar ihm das Wort ab. »Seid zwei Nächte lang meine Gäste, lasst es euch gut gehen und ruht euch von den Strapazen der Reise aus.«
Am Freitagmorgen erinnerte der Muezzin vor Sonnenaufgang die schlafenden Gläubigen an das erste der fünf Tagesgebete. Nach der waghalsigen Besteigung seines Schwindel erregend hohen Minaretts sorgte er – nicht nur bei David – für ein frühes Ende der Nachtruhe.
David fühlte sich wie gerädert. Gähnend schlurfte er auf den umlaufenden Balkon hinaus, von dem aus man in den Innenhof von Yars Anwesen blicken konnte, ein verstecktes kleines Paradies mit grünem Rasen, Feigenbäumen und einem plätschernden Springbrunnen. Eine Schar von Wolken jagte über den Feuerhimmel. David entdeckte den Hausherrn, wie er sich auf einem kleinen Teppich gen Mekka verneigte und murmelnd das Morgengebet anstimmte.
»Im Namen Allahs des Gnädigen und Barmherzigen. Aller Preis gehört Allah, dem Herrn der Welten, dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Meister des Gerichtstages…«
David konnte Yars Arabisch zwar nicht verstehen, aber er kannte die Übersetzung der ersten Sure des Korans. »Führe uns auf dem geraden Weg«, hieß es darin weiter. Er fragte sich, ob er endlich den geraden, den direkten Weg gefunden hatte, der ihn an sein Ziel bringen würde. Wenn, wie er vermutete, Ben Nedal wirklich ein Mitglied des Kreises der Dämmerung war, wäre das ein weiterer Meilenstein.
Ganz versunken in Gedanken bemerkte David zuerst nicht, dass sich sein Gastgeber erhoben und den Teppich zusammengerollt hatte und nun direkt auf ihn zukam. Als er über sich den Engländer auf der Balustrade sah, reagierte er weder verlegen noch verärgert. Er neigte mit einem Lächeln leicht den Kopf und sprach: »La allah illa Allah; Muhammad rasul Allah.« Die Worte des Shahada, des islamischen Glaubensbekenntnisses: »Kein Gott außer Allah; Muhammad ist der Gesandte Allahs.«
David nickte zurück.
»Sind es neue oder alte Sorgen, die dich bedrücken, Sahib?«, fragte Yar.
David lächelte etwas säuerlich und beugte sich vor, die Unterarme auf die Brüstung stützend. »Du bist ein guter Menschenkenner, Yar.«
»Dann sind es neue Sorgen.«
Nach kurzem Zögern antwortete David: »Hast du jemals mit einem Mann namens Ben Nedal Geschäfte gemacht?«
Yars Miene verfinsterte sich. »Ist er der ›Verschwörer‹, dem du auf den Fersen bist?«
»Das weiß ich nicht.«
»Um deine Frage zu beantworten, Sahib: Ben Nedal ist mir nicht unbekannt. Er ist gefährlich. Nimm dich vor ihm in Acht.«
David schaute noch immer grübelnd auf den plätschernden Brunnen hinab, als Yar Muhammad Ali längst verschwunden war.
»Du beschämst mich, Yar. Dieses Geschenk wäre eines Kalifen würdig. Oder besser noch einer Prinzessin. Aber nicht mir.«
»Die Welt ist voller Prinzessinnen, Sahib, man muss nur genau hinsehen, um sie zu erkennen. Bitte nimm die Perle trotzdem. Ich möchte es so.«
»Aber ich habe doch niemanden, dem ich sie schenken kann. Was soll ich damit?«
»Zu gegebener Zeit wirst du es wissen«, erwiderte Yar und in seinen Augen funkelte ein Licht.
Die Röhrenperle in dem lackierten Zedernholzkästchen war nicht so ebenmäßig wie die anderen Schmuckstücke, die Yar seinen Gästen tags zuvor gezeigt hatte. Doch trotz oder gerade wegen der leicht welligen Oberfläche und ihrer auffälligen Zeichnung bezauberte sie David. Er seufzte. »Dann danke ich dir. Die Perle ist wunderschön. Ich habe noch nie einen so leuchtenden Karneol gesehen, mir ist beinahe, als blickte ich in den Sonnenaufgang.«
»Das ist ein guter Vergleich«, freute sich Yar. »Ich wünsche euch beiden für eure Mission viel Glück und Allahs Segen.«
David drückte fest Yars Hand. »Danke, noch einmal. Für alles. Du hast uns sehr geholfen.«
Yar lächelte vergnügt. »Das will ich hoffen, Sahib.«
Mit einer makellos glänzenden und voll funktionstüchtigen Limousine, die aus Yars Fuhrpark stammte, ließen sich David und Balu zum Bahnhof von Lahore bringen. Den japanischen Geländewagen hatte Yar in Zahlung genommen.
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