Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
ich wäre sehr enttäuscht von dir, wenn du auch nur eine Banknote mitnehmen würdest.«
Balu gab nach, aber es fiel ihm sichtlich schwer. Seufzend deutete er auf einen an der Wand stehenden Tisch. »Da liegt ein Sack, Sahib. Stecken wir doch die Papiere hinein.«
Nachdem die Dokumente verstaut waren, schlichen sie sich ins Treppenhaus und machten sich an den Abstieg. Ben Nedal musste sich vor der Besprechung jede Störung durch Bedienstete strengstens verbeten haben. Wie sonst war zu erklären, dass sich niemand in der Nähe des Arbeitszimmers aufhielt? David und Balu konnte es nur recht sein. Die Treppe war menschenleer. Kein Licht brannte. Nur ab und zu erhellte ein Blitz die Dunkelheit.
»Entweder rettet uns das Unwetter oder es ist unser Untergang.«
»Wie meinst du das, Sahib?«
»Das wirst du bald feststellen.«
Endlich erreichten sie die Eingangshalle. David spähte hinter einem Mauervorsprung hervor. Ein Lakai mit einem Kerzenleuchter tauchte auf. Als er wieder verschwunden war, zog David seinen Gefährten hinter sich her. Balus Holzbein klackte über den Steinfußboden.
Der runde Platz vor dem Strandpalast lag verlassen da. Auch der Bentley war verschwunden. Ganz in der Nähe entdeckte David ein an die Mauer gelehntes Fahrrad. Ein wild entschlossenes Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Und jetzt machen wir eine kleine Spritztour, mein Freund.«
Es war gar nicht so leicht, mit einem bald achtzigjährigen schimpfenden Greis auf der Fahrradstange und einem schweren Beutel voller Papiere am Lenker über einen nassen Kiesweg zu fahren. Aber David meisterte auch diese Herausforderung.
»Müssen wir nicht in die andere Richtung, Sahib?«
»Da sitzen die Gurkhas in ihrer Wachstube und schauen in den Regen. Die lassen uns bestimmt nicht so einfach vorbeiradeln.«
»Aber du fährst direkt auf das Ende der Halbinsel zu. Da ist nur das Meer. Und ein Leuchtturm.«
»Ganz richtig, mein Guter. Dort wird uns niemand so schnell suchen.«
Das seltsame Paar gelangte bald in den Teil des Anwesens, der für Fahrräder – zumal bei einem solchen Wetter – schwer passierbar war. David lenkte den Drahtesel an die Seite und bedeutete Balu Dreibein abzusteigen.
»Von hier aus müssen wir zu Fuß weitergehen.« Er warf das Fahrrad schwungvoll hinter einen Busch.
»Ich möchte nur wissen, wie ihr Engländer es geschafft habt, ein Drittel der Welt zu erobern.«
»Beruhige dich, alter Freund. Es ist nicht mehr weit.«
»Bestimmt wirst du gleich von mir verlangen, dass ich durch das Arabische Meer schwimme.«
David grinste. »Damit liegst du gar nicht so verkehrt.«
Balu schnaubte eine Verwünschung und stapfte mit seinen drei Beinen hinter David her. Noch immer goss es in Strömen. Kein Wachposten war zu sehen. David wurde zuversichtlicher. Das Unwetter schien doch auf ihrer Seite zu stehen. Aber dann erreichten sie die Mauer.
»Und was nun, Sahib? Wachsen uns jetzt Flügel, damit wir auf die andere Seite fliegen können?«
David seufzte. Vielleicht gab es auch noch einen Hinterausgang, aber für die Suche danach fehlte ihm die Geduld. »Falsch«, knurrte er. »Nicht wir werden fliegen lernen, sondern dieses Mäuerchen da.«
Er brauchte sich nur kurz zu konzentrieren. Zuerst erklang ein unheimliches Knirschen, dann schien die Mauer regelrecht zu explodieren. Ein großes rundes Stück machte sich krachend in Richtung Meer davon.
David deutete in die Bresche. »Nach dir, mein Guter.«
Balu stolperte los. Ihm fehlten die Worte.
Außerhalb von Ben Nedals Anwesen fiel das Vorankommen ungleich schwerer. Die beiden Fliehenden mussten durch wuchernde Vegetation und Schlamm waten.
»Wie bist du eigentlich hierher gekommen?«, fragte David im Voranstapfen.
»Im Kofferraum, Sahib.«
»Wie bitte?«
»Vielleicht sind dir die vielen Automobilliebhaber vor dem Kaffeehaus aufgefallen. Den geschniegelten Lackaffen am Steuer haben sie jedenfalls ganz schön nervös gemacht. Dabei muss ihm irgendwie entgangen sein, dass seinem chromblitzenden Liebling ein blinder Passagier zugestiegen ist.«
»Du bist unmöglich, Balu!«
»Das hat Bapu auch immer gesagt.«
»Ich hoffe, deine kleine Torheit hat dich viele große Scheine gekostet.«
»Ein paar Rupien waren schon nötig, um die Begeisterung auf der Straße anzuheizen. Aber wenigstens hat dir diese Torheit, wie du sie zu nennen pflegst, das Leben gerettet.«
»Mit dem Gurkha wäre ich auch allein fertig geworden.«
Balu lachte – zum ersten Mal seit ihrem überraschenden
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