Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
mit dem wundersamerweise noch funktionierenden Lastenaufzug ins oberste Stockwerk geschafft hatte, und entwarf Zukunftspläne.
Zunächst musste er wieder zu Geld kommen. Die Weltwirtschaftskrise hatte seine Wertpapiere Makulatur werden lassen. Er überlegte ernsthaft, die während des Krieges im Keller seines Londoner Anwalts verstaubten Aktien zum Tapezieren seines neuen »Lebensraumes« zu verwenden. Wenn sie auch nichts mehr wert waren, sahen sie doch wenigstens hübsch aus. Schließlich verwarf er die Idee. Er konnte nicht Wochen damit vergeuden, seinen Wohnsaal zu verschönern. Ungefähr einen Tag lang rang er auch mit sich, ob er Stony House, seinen letzten Grundbesitz in England, veräußern sollte. Aber es gab zu viel, was ihn mit dem Landsitz in Cornwall verband. Nein, es ging ihm noch nicht schlecht genug, um die steinerne Erinnerung auf den Klippen zu verkaufen.
Mitten in diese finanziellen Überlegungen hinein platzte an einem ungewöhnlich stürmischen, verschneiten Märztag des Jahres 1949 ein kleiner Mann in einem pelzbesetzten Mantel. Er sprang aus einem vor dem Haus geparkten verbeulten Ford, als hätte er genau gewusst, dass David in seinem verzweifelten Kampf um Selbstdisziplin jeden Morgen um sieben Uhr seine Gelbe Festung verließ, um sich in einem nahe gelegenen Frühstückscafe für den neuen Arbeitstag zu stärken. Mit der Linken die graphitfarbene Baskenmütze festhaltend streckte er David die behandschuhte Rechte entgegen.
»Guten Tag, Herr Gladius. Wie gut, dass Sie pünktlich sind! Zehn Minuten später und ich wäre in meinem Auto erfroren.« Die Augen des kleinen Mannes lächelten, nur sein Gesicht wirkte in dem eisigen Wind verzerrt.
David kam der Fremde seltsam vertraut vor. Dennoch war er, gelinde gesagt, erschüttert: Woher kannte der Mann mit der Mütze den von David nur in Karachi benutzten Decknamen? Warum sprach er von Pünktlichkeit? Und weshalb redete er deutsch mit ihm?
»Wer sind Sie?«, knurrte David. Ihm war dieser Überfall nicht geheuer. Nur Ghulam Leghari und einige andere Handlanger Ben Nedals konnten den Namen Gladius kennen, abgesehen von Balu Dreibein natürlich, aber der…
»Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?«, fragte der Fremde unverändert freundlich.
»Sollte ich?«
»Wie geht es meinem Weißen Einhorn!«
Davids Augen wurden groß. Einen Moment lang war er völlig perplex. »Sie sind… der Maler! Wie war doch gleich der Name? Warten Sie…«
»Ruben Rubinstein, ganz recht.« Der kleine Mann lächelte zufrieden. »Was halten Sie davon, wenn wir uns drinnen weiter unterhalten? Es beeinträchtigt den künstlerischen Ausdruck, mit Erfrierungen an den Händen arbeiten zu müssen.«
David öffnete wieder das Bataillon von Schlössern, das sein riesiges leeres Reich sicherte, und führte den Maler hinein. Er war völlig durcheinander. Vor langer Zeit – in Jahren der Finsternis – war er diesem Mann begegnet, nur ein einziges Mal. Deprimiert hatte der Jude damals die Zerstörung eines seiner Bilder durch den Nazipöbel beklagt. Von Ruben Rubinstein stammte das Gemälde über Davids ramponiertem Schreibtisch. Dieser Mensch hatte mit seinem federleichten Pinselstrich einmal Rebekkas Herz angerührt. Nicht zuletzt deshalb freute sich David, ihn jetzt als einen Überlebenden des Holocaust wieder zu sehen, und ließ ihn sogar in sein Reich. Aber misstrauisch blieb er trotzdem.
»Hübsch haben Sie’s hier«, sagte Rubinstein, nachdem er den kahlen Bürosaal betreten und den Schreibtisch, das Feldbett, den rollbaren Kleiderständer, den Stuhl und – mit einem wehmütigen Lächeln – das Weiße Einhorn begutachtet hatte. Merkwürdigerweise konnte David in der Äußerung keine Spur von Ironie ausmachen.
»Warum sind Sie hier?«, fragte er lauernd.
»Ich suche ein neues Atelier. Das Glück hat mir einige wohlbetuchte Käufer in die Arme getrieben, die nun nach neuen Bildern verlangen. Ich arbeite gerne an mehreren Werken gleichzeitig, aber in meiner Brooklyner Dachkammer ist daran überhaupt nicht zu denken. Ich hörte, Sie könnten vielleicht einen Mieter gebrauchen und jemanden, der auf dieses Haus hier aufpasst, während Sie durch die Welt reisen.«
David wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Schließlich fiel ihm aber doch eine, wie er glaubte, passende Erwiderung ein. »Woher wissen Sie das alles? Wer hat Ihnen das verraten?«
Rubinstein wirkte ein wenig unglücklich, sein Lächeln etwas gequält. »Sagen wir, ein Freund. Jemand, der es gut
Weitere Kostenlose Bücher