Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Erinnerungen preiszugeben, aber er tat es. Ils Kummer sei ihm nicht fremd, erklärte er ruhig. Auch ihm seien Frau und Sohn entrissen worden, auch in seinem Fall trügen gewissenlose Menschen die Schuld an dem ihm widerfahrenen Leid. Der Wahrheitsfinder sprach ohne Berechnung. Er wollte seine anfängliche Grobheit wieder gutmachen und etwas wie Vertrauen zwischen sich und dem Schmuggler aufbauen. Zudem hatte er die Regeln des kibun verletzt, des auf Ausgleich bedachten Verhaltenskodexes der Koreaner. Nun war es an ihm, Ils Gesicht zu retten.
Zu Davids Überraschung zeigte sich schon bald der Erfolg seiner Bemühungen. Il stellte unvermittelt die Frage: »Bist du bereit, noch in dieser Nacht mit mir nach Yongamp’o aufzubrechen?«
Bezeichnenderweise trug der Kutter den Namen Ok-Hi, was selbst David unschwer mit Jadeprinzessin übersetzen konnte. Es handelte sich um eine aus China stammende Zweimastdschunke mit einer Sonderausstattung, die sich am besten aus Ils Nebenberuf erklären ließ. Unter anderem verfügte das Segelschiff über einen kräftigen Dieselmotor, denn selbst der vorsichtigste Schmuggler musste hin und wieder einen schnellen Rückzug antreten. Ein ebenfalls motorisiertes Beiboot ermöglichte die Anlandung von Konterbande in flachen Küstengewässern, an denen das Gelbe Meer nicht gerade arm war. Und dann gab es da über dem Laderaum noch die kleine Kajüte, die ausreichenden Schutz vor den Unbilden des Wetters bot. Il meinte, bis Ende August sei beinahe täglich mit feuchten Grüßen des Monsun zu rechnen. Er sollte Recht behalten.
Wie angekündigt lichtete die Jadeprinzessin noch in derselben Nacht den Anker. Neben Kaeddong gehörte auch Phillihi zur Besatzung – David hatte gegenüber den koreanischen »Geschäftsfreunden« seine ganze Überzeugungskraft einsetzen müssen. Dabei benahm sich der grobschlächtige Skipper oft selbst wie ein Kind. Er stopfte Phillihi in schweres Ölzeug, band ihr einen Strick um den Leib und spielte mit ihr an Deck Fangen. David verfolgte die wachsende Zuneigung des Witwers zu dem Mädchen mit einer Mischung aus Eifersucht und stiller Befriedigung. Er fragte sich, warum es in seiner Muttersprache zwar die Begriffe »Waise« und »Witwe« gab, aber keinen Ausdruck für um ihre Kinder beraubte Eltern. Hatten die Betroffenen es etwa nicht verdient, ihrer Trauer und ihrem Verlust einen Namen zu geben? Il und David waren beide wie Schiffe, die orientierungslos auf dunkler See trieben, während mit einem Mal der Polarstern aufging und ihnen eine neue Richtung wies: das Mädchen Phil’ lihi.
»Die Kinder sind unsere Zukunft«, sagte Il lachend, als er Davids Blick bemerkte, »ohne sie ist alles trostlos und leer.«
Von Inch’on aus hielten sie zunächst südlichen Kurs, direkt auf ein verwirrendes Labyrinth aus kleinen Inseln in der Asan-Bucht zu. Il unterhielt dort ein Treibstoffdepot. In einer Grotte, die nur vom Meer her zugänglich war, wurde am Tag nach der Abreise Diesel gebunkert. Erst in der Nacht nahm die Jadeprinzessin dann wieder Kurs aufs offene Meer.
Es ging geradewegs nach Nordwesten. Ungefähr zwölf Stunden später – etwa auf Höhe des achtunddreißigsten Breitengrades – wechselte das Fischer- und Schmugglerboot dann auf nördlichen Kurs. Die Jadeprinzessin hatte nun die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Fernab jeder Küste durchquerte sie die Koreanische Bucht. Dann kam der schwierigste Teil des Unternehmens: die Landung vor Yongamp’o.
Am vierten Tag der Reise standen die drei Männer in der engen Kajüte über eine grobe Karte des Zielgebiets gebeugt und diskutierten voller Unternehmungsgeist die Einzelheiten der Operation An Chung-gun. Phillihi lag in ihrer Hängematte und beobachtete schweigend den Planungsstab.
David verstand genug von der Seefahrt, um die Problematik des Einsatzes nachvollziehen zu können. Die Küstengewässer waren flach. Man konnte leicht auf eine Sandbank auflaufen, von Minen ganz zu schweigen. Das Unternehmen ließ sich unmöglich in einer Nacht durchführen, da ständig die Wassertiefe ausgelotet werden musste. Und um das kleine Beiboot einzusetzen, brauchte man einen Stützpunkt. Kaeddong schlug die Insel Ka vor, aber die war fünfundzwanzig Seemeilen Luftlinie vom Operationsgebiet entfernt. Fünfzig, wenn man den Rückweg dazurechnete.
»Der Motor ist nicht mehr der Jüngste«, gab Il zu bedenken. »Ich weiß nicht, ob er das durchhält.«
Resignation zeigte sich bereits auf den Gesichtern der Koreaner.
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