Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Mit einem Mal beugte sich David noch tiefer über die Karte und tippte auf einen winzigen Punkt. »Was ist mit Sin, der kleinen Insel hier oben? Sie dürfte so um die acht Seemeilen von Yongamp’o entfernt sein.«
»Damit liegt sie aber direkt vor der chinesischen Grenze«, knirschte Il.
»Glaubst du, China fürchtet eine Invasion Nordkoreas?«
»Unsinn. Die beiden sind doch Waffenbrüder.«
David lächelte. »Eben. Dann werden die Kontrollen dort, im Schatten des großen Bruders, am geringsten sein. Ich schlage vor, meine Herren, wir legen unsere Basis an die Küste von Sin.«
Il nickte. »Der Plan ist verwegen, aber er könnte klappen.« Dann entblößte er seine krummen Zähne und grinste David an. »Ich könnte für mein Geschäft noch einen Partner gebrauchen – wie wär’s?«
Mitternächtliche Missverständnisse
Der letzte Morgen im August sollte die Entscheidung bringen, Triumph oder bittere Niederlage. David hätte sich gewünscht, weiter als nur ein paar Sekunden in die Zukunft sehen zu können. Zumindest das Wetter zeigte sich kooperativ: Der Himmel war bedeckt, aber das Meer verhältnismäßig ruhig. Zwei Tage zuvor hatten sie das Versteck im Süden der Insel Sin bezogen. Als Stützpunkt diente ihnen eine winzige Bucht mit überhängenden Felsen, deren hinterster Winkel weder vom Meer noch von den Klippen aus einsehbar war. Sie hatten einige Erkundungsfahrten zum Festland unternommen und sich einen Küstenstrich gesucht, an dem sie unbemerkt landen und auch ein kleines Boot verstecken konnten. Auf diesem Gebiet besaß Il einen sechsten Sinn und so ließ sich schnell ein passendes Terrain finden. Nun hatte das Warten ein Ende. Die heiße Phase der Operation An Chung-gun begann.
Exakt zwei Stunden vor Mitternacht kletterten David, Kaeddong, Il und Phillihi in die Tugend – der koreanische Name des Beibootes lautete Suk – und der Schmuggler warf den Motor an. Zunächst ging es aufs offene Meer hinaus, dann in einem weiten Bogen nach Norden, direkt auf die Mündung des Yalu zu. Die Grenze zwischen China und Korea verlief in der Mitte des Flusses. In sicherem Abstand zur Küste drehte die Tugend nach Steuerbord. Die letzte Seemeile bis zum ausgekundschafteten Landungsplatz wurde gerudert.
Der kiesbedeckte Strand sah so verlassen aus wie in der Nacht zuvor. Als der Kiel der Tugend den Grund berührte, sprangen die Männer ins Wasser und zogen das kleine Boot auf den mitgebrachten runden Holzbohlen über den Strand bis unter die nahen Kiefern. Kaeddong und Il schnitten Zweige von den Bäumen und deckten das Gefährt damit zu.
»So, jetzt wird es niemand entdecken«, sagte Il zufrieden.
»Ich bleibe hier und halte Wache. Für euch beide wird es Zeit, euch umzuziehen. Phillihi kann bleiben, wie sie ist.«
Kaeddong öffnete die Verschnürung eines großen Bündels, das zwei traditionelle Bauerngewänder enthielt. Die Kleidung war für einen Europäer, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig. Die nackten Füße steckten in flachen Schlappen, die für David wie Ballerinaschuhe aussahen. Als Beinkleider dienten graue Pumphosen, deren Enden über den Knöcheln mit Bändern zusammengehalten wurden. Darüber kam ein Kittel, schneeweiß und bis zu den Waden herabreichend. Die Krönung – in jeder Hinsicht – bildete der schwarze »Zylinder«, kurz kat genannt. Er bestand aus Pferdehaar, war kurz und schmal, die Krempe dagegen ziemlich breit. Normalerweise schützte die, nach Davids Dafürhalten, lächerliche Kopfbedeckung den statusbestimmenden Haarknoten, über den aber weder er noch Kaeddong verfügten.
»Na ja, wenigstens mache ich mich hier für einen höheren Zweck zur Witzfigur«, stöhnte David.
Kaeddong grinste. »Lass das nur keinen unserer stolzen alten Bauern hören. Sie würden dich steinigen.«
David griff nach dem schmückenden Beiwerk – einem Krückstock – und seufzte: »Können wir?«
Kaeddong nickte. »Von mir aus. Ich kann es kaum erwarten, diesem Schuft gegenüberzutreten.«
Nach einer kurzen Verabschiedung stapften die Landmänner mit Phillihi in ihrer Mitte davon. Il hatte sie noch einmal ermahnt, keine unnötige Zeit zu vergeuden. Er rechne in spätestens vier Stunden mit ihrer Rückkehr und wolle vor Anbruch der Dämmerung wieder auf See sein. Sorgenvoll winkte er ihnen hinterher.
Kurz vor Mitternacht erreichten sie Yongamp’o. Der kleine Ort war wie ausgestorben, trostlos und finster. Offenbar hatten die Behörden eine nächtliche Ausgangssperre sowie
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