Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
hatte er Lady Eleanor Roosevelt einen Höflichkeitsbesuch abgestattet. Der großen alten Dame ging es alles andere als gut. Mit schwachem Lächeln nahm sie den Dank ihres »jungen Eiferers« David Pratt entgegen. Acht Tage später, am 7. November 1962, starb die First Lady of the World. Andere, die ihm bei der Lösung der Kubakrise geholfen hatten, sollten ihr bald folgen.
Ohne Zögern machten sich David und Lorenzo an die nächsten Schritte zur Vernichtung des Kreises der Dämmerung. Dabei maßen sie der Beantwortung einer Frage besonderes Gewicht zu: Wo versteckte sich Luciano Varuna?
Lorenzo präsentierte eine erstaunliche Entdeckung: »der Lichte«, »der Glänzende« oder auch »der bei Tagesanbruch Geborene« – für all das standen sowohl die Namen Lucius und Luciano wie auch Kelippoth. Der Rest war etwas schwieriger, weil sogar der ehemalige Benediktiner sich zunächst von dem italienischen Klang des Namens hatte täuschen lassen. Aber schließlich lieferte er David eine verblüffende Erklärung.
»Varuna ist Sanskrit und bedeutet ›der Allumfassende‹. Die Brahmanen bezeichnen mit diesem Ausdruck den Herrscher über das Dunkle der Nacht. In der Hindukunst wird er mit Sonnenschirm und Schlinge dargestellt. Ihm ist die Bewachung der westlichen Himmelsrichtung anvertraut.«
David nickte langsam. »Das passt. Die Vereinigten Staaten sind der Inbegriff des Westens. Und als Gott der Finsternis bleibt er gewissermaßen ganz in der Tradition seines bisherigen Namens: Kelippoth steht ja für die Scherben des Bösen, in denen die Funken des göttlichen Lichts gefangen sind. Wir haben es bei Varuna und Kelippoth mit ein und derselben Person zu tun.«
»Man könnte glauben, dieser Varuna treibe sein Spiel mit einem Ausspruch des Apostels Paulus.«
»Du bist bibelfester als ich. Hilf mir auf die Sprünge.«
»Satan nehme immer wieder die Gestalt eines Engels des Lichts an, heißt es im elften Kapitel des zweiten Korintherbriefes. Das würde auch zu Eisenhowers Hinweis passen, dieser Varuna habe bei der Bekämpfung des Ku-Klux-Klan geholfen.«
David rieb sich nachdenklich das Kinn und nickte. »Am Beispiel An Chung-guns kann man ja sehen, wie schnell man im Kreis der Dämmerung die Positionen wechselt, wenn es nur dem Jahrhundertplan nützt.«
»Dann wirst du also die Jagd auf Kelippoth wieder aufnehmen?«
»Ich muss doch nur J. Edgar Hoover überreden, mich seinem Freund vorzustellen. Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Nein, im Augenblick müssen wir nach jedem Strohhalm greifen.«
Lorenzos Zustimmung rührte dabei weniger von einer positiven Beurteilung ihrer Lage her als vielmehr vom Wunsch, seinen Freund nicht im Stich zu lassen.
Und tatsächlich zeichneten sich die ersten Probleme bereits ab, als David bei John Edgar Hoover anrief. Der Direktor der Bundeskriminalpolizei war für eine gute Publicity immer zu haben, hielt sich aber mit Auskünften über Luciano Varuna zurück.
In der Folgezeit wechselten sich in der Wochenzeitschrift Time große und kleine Meldungen mit regelmäßigen Hoover-Storys von David Pratt ab. Im Januar 1963 lieferte eine schon seit einiger Zeit als Geheimtipp gehandelte Popband, die unter dem Namen The Beatles morsche Trommelfelle zerbersten und junge Mädchen reihenweise in Ohnmacht fallen ließ, mit Please Please Me ihren ersten Nummer-eins-Hit ab und David schrieb über Hoover. Er tat es umso mehr, als John Fitzgerald Kennedy am 22. November desselben Jahres im texanischen Dallas von tödlichen Schüssen im Kopf und am Genick getroffen worden war. 1965 legte Hirotaro im Alter von fünfundachtzig Jahren sein Amt als »Biologielehrer des Kaisers« Hirohito nieder und David schrieb immer noch über Hoover.
Als sein langjähriger Freund, der Mitbegründer des Magazins Time, Henry Robinson Luce, am 28. Februar 1967 starb, fühlte sich David eine Zeit lang antriebslos und ließ die Schreibmaschine ruhen, aber zum Jahresende – Christiaan Neethling Barnard pflanzte gerade das Herz einer Fünfundzwanzigjährigen in die Brust eines fast doppelt so alten Mannes – brütete er schon wieder über einem großen Hoover-Report. Nur über Hirohito hatte er mehr Artikel verfasst. Solange J. Edgar Hoover interviewt werden wollte, konnte David seine Gabe wirken lassen. Aber selten hatte er es so schwer gehabt wie mit diesem Menschen. Es dauerte Jahre, bis er Hoovers Vertrauen gewonnen hatte. Erst als Martin Luther King am 4. April 1968 und zwei Monate später Robert Kennedy erschossen
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