Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund

Titel: Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
McGeorge Bundy die Erlaubnis abzuringen, den Fernschreiberraum besichtigen zu dürfen. Er wolle selbst mit ansehen, wie das historische Dokument nach Russland gesendet werde, lautete Davids nicht sehr einfallsreiche Erklärung. Der National Security Advisor hielt Journalisten sowieso für einen Menschenschlag, der bisweilen seltsamen Vergnügungen frönte und die eigenen Marotten unter dem Banner der Pressefreiheit auslebte. Daher – und weil er David uneingeschränkt vertraute – hatte er gegen das merkwürdige Ansinnen nichts einzuwenden, »solange du nur deine Finger von dem Gerät lässt«.
    Rechtzeitig bevor er sich dem Fernschreiber widmete, hatte David noch einmal mit dem Präsidenten und dessen Bruder gesprochen. Es wäre doch eine fabelhafte Idee, sinnierte er, die Fernsehansprache vom 22. noch einmal aufzuwärmen und sie den Mitbürgern zum nächsten Mittagessen aufzutischen. Sicher habe nicht jeder am letzten Montag vor der Mattscheibe sitzen können. Weil Wiederholungen für die meisten Zuschauer einen schalen Beigeschmack hätten, könne man ja vielleicht den Inhalt der Ausstrahlung zunächst verschweigen. Das steigere die Vorfreude. John F. Kennedy fand Gefallen an der Idee. Sonntags war man entspannter. Da ließ sich die Nachricht eines drohenden Atomkrieges erheblich leichter verdauen.
    Dem Justizminister empfahl David einen dringenden Besuch bei Anatoly Dobrynin, dem sowjetischen Botschafter in Washington, D. C. Es könnte durchaus nützlich sein, den Russen die amerikanische Haltung unmissverständlich darzulegen: Man wünsche den Frieden, verlange aber unverzüglich eine Antwort der Sowjetunion. Weitere Verzögerungen könnten die Krise nur verschlimmern.
    David erkannte sich selbst nicht wieder. Er vertraute ganz auf seine Menschenkenntnis, wenn diese in Chruschtschows Fall auch auf eine harte Probe gestellt wurde. Er musste den Ministerpräsidenten allein nach seinen Briefen beurteilen. Der Sowjetführer wusste zweifellos von den in Florida zusammengezogenen Landungstruppen der Amerikaner – einhunderttausend »Ledernacken« rüsteten sich für eine Invasion Kubas. Außerdem galt für die Luftstreitkräfte höchste Alarmbereitschaft. Die Air-Force-Maschinen waren mit Atomsprengköpfen bestückt und befanden sich ständig in der Luft. Wenn jetzt noch der Sowjetbotschafter unter Druck gesetzt und eine Fernsehansprache ohne nähere Angaben über deren Inhalt angekündigt wurde, musste Chruschtschow mit dem Schlimmsten rechnen. Jedenfalls so lange, bis er den ernüchternden Antwortbrief Kennedys zu lesen bekam.
    Nie zuvor hatte David versucht, elektrische Impulse zu verlangsamen. Ein Fernschreiben war ja im Grund nichts anderes als ein Elektronenhagel, der durch ein Kabel gejagt wurde. Aber wenn er – dank Albert Einsteins Inspiration – die Kernteilchen eines beliebigen Gegenstandes verlangsamen und dadurch abkühlen konnte, dann musste Ähnliches auch mit elektrischem Strom funktionieren. Also setzte er sich vor den Fernschreiber, konzentrierte sich auf das Kabel hinter dem Gerät und hielt für die elektronische Nachricht die Zeit an. Nun, ein wenig bewegte sich Kennedys Mitteilung schon auf Chruschtschow zu, aber sie kroch langsamer als eine Schnecke.
    Bis gegen drei Uhr morgens starrte David auf das aus der Wand ragende Kabel und hoffte inständig, der ihn argwöhnisch musternde Nachrichtenoffizier würde den »Raureif« auf der Plastikisolierung nicht bemerken. Es war kein Misstrauen, das der Uniformierte hegte – David besaß ja die Unbedenklichkeitserklärung Bundys –, sondern vielmehr jene Art von Neugier, wie man sie gelegentlich exotischen Lebewesen entgegenzubringen pflegt, deren Verhaltensweisen man nicht ganz versteht. Jedenfalls kostete es David große Anstrengung, die wiederholten Fragen des jungen Mannes nach dem Sinn seiner Fernschreiberhypnose freundlich zu beantworten, ohne dabei das Telegramm entschwinden zu lassen. David lächelte dann immer verkrampft und erklärte, man könne ja nicht wissen, ob schon bald eine Antwort auf das Fernschreiben einträfe. Der Präsident sei erpicht darauf, eine solche umgehend zu erhalten. Irgendwann nach Mitternacht hatte der Soldat resigniert und nahm keine Notiz mehr von dem verrückten Weißschopf.
    Die Erlösung kam um zehn. Außenminister Dean Rusk lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Weiße Haus. Auf dem Flur im ersten Stock stolperte David über ihn. Er war erst vor einer knappen Stunde aufgestanden und starrte Rusk aus

Weitere Kostenlose Bücher