Der Kreuzfahrer
vorhergesagt hatte, fiel der Turm über unseren Köpfen zusammen. Als der nächste Felsbrocken gegen die Wand krachte, überkam mich finstere Verzweiflung. Wenn dieser mächtige Turm zu einem Haufen scharfer Splitter zerschossen war, würden die Soldaten wieder vorrücken, mit Äxten und Spießen, und uns unter einer roten Flutwelle des Hasses begraben, die der Priester angestoßen hatte.
Ich stand wieder auf dem Dach und vermied es, das riesige Loch im Boden anzuschauen. Die Brüstung schwankte und bebte unter meinen Händen. Im Erdgeschoss, aus dem ich gerade heraufgestiegen war, wimmelte es inzwischen von Verwundeten, die meisten von Splittern getroffen. Wenn die Steinbrocken mit höllischer Wucht gegen die Wände krachten, schossen auf der Innenseite Splitter aus dem Holz, so lang wie Speere und scharf wie Barbiermesser. Sie fuhren in die ungeschützten Leiber wie eine heiße Nadel in Butter. Der Gestank von Blut erfüllte die klamme Luft, und das Geschrei der Verwundeten und Trauernden, der verängstigten Frauen und Kinder und ja, auch einiger Männer, hallte durch den Turm wie das Geheul verlorener Seelen. Wir befanden uns in der Hölle. Und es gab kein Entrinnen.
Dann geschah ein Wunder. Ich hörte die großen Glocken des Klosters läuten. Ihr fröhlicher Klang über all dem Blut und Gemetzel wirkte wie ein abscheulicher Scherz. Sie läuteten zur Vesper, endlos lang, und während ich ihnen lauschte und den Schutz der Heiligen Jungfrau erflehte, bemerkte ich irgendwann, dass der Beschuss aufgehört hatte. Seit dem letzten krachenden Einschlag musste eine Viertelstunde vergangen sein. Die Sonne stand schon sehr tief am Himmel, und ich entdeckte, dass die Männer, die das Katapult bedienten, abgezogen waren. Ein einsamer Soldat saß auf dem vorderen Querbalken der Belagerungsmaschine und blickte zu dem wackeligen Turm auf, der sich blutig und zerschunden zu ducken schien. Balken und Bohlen standen in bizarren Richtungen ab. Mein Gebet an die Muttergottes war erhört worden – doch als das Vesperläuten noch immer nicht verstummte, wurde mir klar, dass es für diese wundersame Atempause eine andere Erklärung gab: Denn plötzlich fiel mir ein, dass Karfreitag war und unsere christlichen Peiniger an diesem heiligen Abend den Gottesfrieden wahrten. Im Burghof befanden sich viel weniger Menschen als zuvor, obgleich der Ring aus gerüsteten Soldaten um den Turm noch geschlossen war. Wer immer für die Aufgabe, uns hier eingepfercht zu halten, nicht benötigt wurde, besuchte die Messe.
Kapitel 6
A ls die Nacht anbrach, war klar, dass uns vorerst tatsächlich weitere Angriffe mit der Mangonel erspart blieben. Ich vermutete, dass die Verwüstung jedoch am Morgen wieder beginnen würde. Wenn der Turm dann zu Kleinholz zerschossen war, würde ein Angriff der frustrierten Bürger folgen, die nach unserem Blut gierten, mit Unterstützung der ausgebildeten Soldaten von Sir Richard und Sir John. Robin war ebenfalls dieser Ansicht.
Ich schlug meinem Herrn vor, wir sollten nach unten gehen, um bei der notdürftigen Reparatur der Wände zu helfen, doch er schüttelte den Kopf. »Sie werden nichts reparieren«, sagte er mit einer Stimme, bei der mir ein Schauer über den Rücken lief. »Sie haben beschlossen, zu sterben. Jetzt beten sie und feiern die Rituale ihres Glaubens an diesem heiligen Tag. Wir müssen sie in Ruhe lassen.«
Ich starrte ihn entsetzt an. »Alle?«, fragte ich.
»Alle, mit wenigen Ausnahmen«, antwortete er. »Morgen werden wir beide, Reuben und Ruth eine Handvoll Juden aus dieser Ruine führen und uns der Gnade von Sir John Marshal ausliefern. Keine Sorge, Alan, uns wird nichts geschehen – dir und mir. Zumindest glaube ich das nicht. Er hätte gewisse … Konsequenzen zu fürchten, und für eine Leiche bekäme er kein Lösegeld. Was Reuben und Ruth angeht, so habe ich sie überredet, sich taufen zu lassen, und ihnen versprochen, sie zu schützen. Das ist besser als der sichere Tod …«
»Wir wollen hoffen, dass Sir John nichts von dem großzügigen Kopfgeld weiß, das Ralph Murdac auf Euren Kopf ausgesetzt hat«, erwiderte ich grimmig.
»Tja, wenn du einen besseren Plan hast, heraus damit«, fuhr Robin auf. Mir wurde klar, dass er unter ebensolcher Anspannung stehen musste wie ich – dennoch war diese Erwiderung ungewöhnlich scharf für meinen Herrn. Ich hatte keinen praktikablen Vorschlag, also blieb ich still.
Wir verbrachten die nächsten Stunden gemeinsam an die wackelige Brustwehr
Weitere Kostenlose Bücher